Der Fehler im Amerikanischen Traum

Ich bin gestern über einige Motivationsvideos im Internet gestolpert und anders als sonst habe ich sie nicht direkt wieder weggeklickt, sondern habe mir die verschiedenen Messages angehört, die die (angeblich) sehr erfolgreichen Sprecher verkünden.

Im Grunde laufen sie alle auf die Formel des Amerikanischen Traums hinaus: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmieds. Doch das ist noch nicht alles, denn diese These schließt ja auch die Möglichkeit des Scheiterns mit ein: Man kann ja auch einfach ein lausiger Schmied sein.

Das wäre natürlich keine frohe Botschaft für das Publikum: Theoretisch kann es jeder schaffen, aber ob du es schaffst, das sei mal dahingestellt. Also wird noch eine zweite Behauptung aufgestellt, nämlich dass jeder im Publikum auch tatsächlich die Fähigkeiten besitzt, ein guter Glücks-Schmied zu werden.


Aus den Kommentaren:

„Du bist definitiv eines meiner größten Vorbilder im Bereich Business und Unternehmen“

„‚Eine richtige Entscheidung zu treffen bedeutet alle anderen Wege auszuschließen‘ Als du diesen Satz gesagt hast bekam ich Gänsehaut.“

„Ich bin gerade selber erstaunt wie krass du mein Mindset in diesen knapp 50 Minuten verändert hast!“


Diese Behauptung wird mit dem eigenen Erfolg untermauert: Vorgeblich ist der Sprecher ein Jedermann gewesen, bis ihm die entscheidende Einsicht gekommen ist. Danach hat sich alles radikal zum Besseren gewendet, weswegen er nun praktisch gar nicht anders kann, als seine Mitmenschen mit ins Glücksboot zu holen.

Spielen wir also das Szenario einmal durch, dass diese Behauptung stimmt – im Sinne eines philosophischen Gedankenexperiments. Sagen wir die deutsche Bevölkerung ist ausnahmslos begabt und zu Großem berufen, aber dieses Potenzial liegt größtenteils brach. Aber das Wort des Gurus erreicht mit einem Schlag alle Ohren des Landes und setzt damit das ganze Potenzial tatsächlich auch frei. Jeder Deutsche erkennt mit einem Mal, dass er underperformt und eigentlich viel mehr erreichen kann in seinem Leben.

Die meisten Menschen wollen wohl etwas oder auch viel mehr Geld verdienen, als sie es tun, denn Geld schafft zweifelsohne Möglichkeiten und Sicherheiten. Dazu beklagt das Volk wohl am häufigsten die Eintönigkeit des Arbeitsalltags.

Gerade schlecht bezahlte Routinejobs würden also unmittelbar nach Vernehmen der frohen Botschaft massenhaft gekündigt werden, denn das Land erkennt nicht nur seine Möglichkeiten, es ist auch wild entschlossen, sie wie der Guru in die Tat umzusetzen.

Innerhalb weniger Tage würde sich der Müll häufen, weil die Müllabfuhr keine Angestellten mehr hätte. Auch Putzfrauen würden reihenweise die Segel streichen, genauso wie Kellner, Paketboten und all die übrigen fleißigen, aber schlecht bezahlten Arbeitsbienen mit langweiligen Jobs.

Der reibungslose Ablauf des täglichen Lebens käme also direkt ins Stocken, aber das macht erstmal nichts. Schauen wir lieber, wo nun Hochbetrieb herrschen würde, nämlich zum Beispiel im Gewerbeamt. Unzählige Menschen würden endlich ihr Café aufmachen wollen oder Zuschuss für ihre neue Ich-AG beantragen.

Auch die Schlangen bei den Banken wären endlos, denn viele bräuchten Startkapital für ihr neues Leben. Und die Schöngeister würden sich endlich bei der Kunstakademie bewerben, Gesangsunterricht nehmen oder mit ihrer Tanztruppe auf Tournee gehen. Alle wären beseelt vom neuen Anfang und der baldigen Erfüllung ihrer Träume.

Das Müllproblem wäre übrigens bald gelöst, denn die Löhne bei der Müllabfuhr würden kurz nach der Wende zur kollektiven Wachheit so hoch steigen, dass man auch als Müllmann schnell reich werden kann. Einige würden also (wieder) dort anfangen und das neue schöne Leben im materiellen Luxus genießen.



An anderer Stelle wäre die Landung härter, denn hier herrschte das gegenteilige Phänomen: Wenn in einer Kleinstadt tausend Kaffee-Fans ihr eigenes Café aufmachen, macht kein Café mehr Umsatz. Nicht nur verteilen sich die bisherige Kunden auf mehr Cafés, auch die neuen Café-Besitzer, die wahrscheinlich früher selbst Gast waren, fallen als Konsumenten weg. Die Folge: Die meisten Cafés würden ruck-zuck wieder von der Bildfläche verschwinden. Zurück blieben nur viele verschuldete Menschen ohne Job.

Gut, dass ist der Markt, die Wirtschaft, aber es geht doch um Selbstverwirklichung. Kann sein, aber dort ist es dasselbe: Wenn jeder auf die Bühne will, gibt es kein Publikum mehr, schon gar kein gut zahlendes. Die Aufmerksamkeit der Menschen ist begrenzt, genauso sind es auch die Studienplätze an Kunstakademien, Lehrerstellen oder Jobs als Sozialarbeiter. Auch im Bereich der nicht-materiell orientierten Tätigkeiten würde also schnell eine harte Auslese stattfinden.

Aber Moment, eine Auslese, was bedeutet das? Das bedeutet, dass sich bestimmte Menschen durchsetzen mit dem, was sie tun und wie sie es tun, während andere Menschen mit ihrem Handeln scheitern. Dabei setzen sich genau so viele durch, wie es die spezifische Nachfrage zulässt.

Bei diesem Prozess ist mit Sicherheit Glück im Spiel: In einem der tausend neuen Cafés sitzt vielleicht kurz nach der Eröffnung ein Prominenter, das spricht sich rum, die Leute strömen massenhaft dort hin und machen es noch weiter bekannt.

Doch neben dem Faktor Glück wird die Auslese auch durch harte Faktoren bestimmt, im Falle eines Cafés zum Beispiel durch die dort gebotene Qualität. Aber diese Qualität kommt ja nicht von ungefähr, sondern hängt von den handelnden Menschen ab, also von deren Fähigkeiten. Im einen erfolgreichen Café backt ein bestimmter Konditor Torten, die besser schmecken besser als in den 5 Cafés nebenan. Also gehen die meisten Leute dorthin.

Die Frage, die eigentlich keine Frage ist, lautet nun: Ist der Hauptgrund dafür, dass die Cafés mit den schlechteren Torten scheitern, dass die dort wirkenden Personen (noch immer) die falsche Lebenseinstellung haben? Haben sie den Guru noch immer nicht verstanden? Wenn jeder seines Glückes Schmied ist, müsste das der Hauptgrund sein: Die Konditoren in den 5 schlechteren Cafés könnten dann sehr wohl besser backen, rufen dieses Potenzial aber nicht ab. Also sind sie selbst Schuld, dass sie Scheitern.

Nehmen wir wieder an, es wäre so, dass die 5 Konditoren besser backen könnten und das auch tun. Sie schließen also von der Qualität her zum Spitzencafé auf. Nehmen wir nun auch an, dass daraufhin auch der Spitzenkonditor wieder eine Schippe drauflegt, weil auch er sein ganzes Potenzial noch nicht ausgeschöpft hatte. In so einem Fall würde sich die Qualität der Torten hochschaukeln – zur Freude der Kunden, die angesichts des großen Angebots auch noch wenig für diese Spitzenqualität bezahlen würden.

Aber irgendwann wäre Schluss: Torten können nicht unendlich lecker werden, das heißt, es kommt der Punkt, an dem alle 6 Konditoren nicht nur 100 % ihres persönlichen Potenzials ausgeschöpft haben, sondern 100 % des menschlichen Tortenbackpotenzials. Damit müsste sie doch sichergestellt haben, dass sie glücklich sind?

Natürlich nicht, denn es herrscht ja weiterhin ein Überangebot an Torten. Also werden nun wiederum Glück oder Zufall darüber entscheiden, welche Cafés überleben. Die anderen müssen weichen, und zwar gänzlich ohne dass es die Schuld der Betreiber wäre.

Zu sagen: Dann hatten die Cafés, die gescheitert sind, aber sicher schlechteren Service oder etwas anderes, an dem die Verantwortlichen hätten arbeiten können, ist töricht, denn man kann all das in ein äquivalentes Szenario einfließen lassen, in dem alle ihr ganzes Potenzial ausschöpfen und dadurch dennoch nicht mit Sicherheit ihren Erfolg sicherstellen.

Um das Ganze nochmal zusammenzufassen: Solange „Glück“ als etwas definiert wird, was man innerhalb einer sozialen Gruppe dadurch erreicht, dass man aus ihr heraussticht – durch Reichtum, Prominenz, Tortenqualität oder was auch immer -, ist es unmöglich anzunehmen, die ganze Gruppe könnte dieses Glück erreichen. Wenn jeder heraussticht, sticht keiner heraus. Wenn aber etwas per se nicht erreichbar ist, nämlich „Glück“ für alle, dann hat auch die individuelle Einstellung keinen Einfluss auf das Erreichen.

Jetzt wird gerne entgegnet, es hieße aber doch „Jeder kann es schaffen“ – und nicht „Alle können es zeitgleich schaffen“. Das heißt, es wird argumentiert, es würden ja eben nicht alle Menschen ihr Potenzial abrufen, sodass die veränderte Einstellung eben gerade doch der entscheidende Vorteil sein kann.

Mit anderen Worten: Es macht eben nicht jeder, der gerne backt und von einem Café träumt, ein Café auf. Diese Trägheit der anderen könne man also gerade ausnutzen, indem man gegen den Strom schwimmt und es eben selbst doch tut.

Das klingt plausibel und ist es auch. Doch ist die Aussage, dass jemand mit einer cleveren Geschäftsidee wirtschaftlichen Erfolg haben kann, wenn er hart dafür arbeitet und eine Marktlücke trifft, ist nun wirklich keine sensationell-motivierende Botschaft mehr, sondern beschreibt einfach nur der Kern wirtschaftlichen Handelns.

Und es ist eben nicht die Botschaft, die jemand implizit abgibt, wenn er auf einer Bühne steht oder im Fernsehen auftritt und sagt: „Jeder kann es schaffen“. Damit adressiert er auf konturlose Weise jeden einzelnen im Publikum, ohne weitere Einschränkungen wie „… sofern deine spezifischen Talente zur Zeit nachgefragt werden“ oder „… wenn es dein gesundheitlicher Zustand zulässt“ oder „… wenn du die Fähigkeit zu analytischem Denken hast “ zu machen.

Das Perfide an dieser Methode ist, dass der Redner schon vorsorglich sicherstellt, dass ihm dieser Unsinn nicht um die Ohren fliegt, wie es ja eigentlich der Fall sein müsste. Denn praktisch niemand im Publikum wird die versprochenen Ziele erreichen. Aber dieses Scheitern wird ja von vorneherein mit den individuellen Fähigkeiten jedes Einzelnen im Publikum verknüpft, sodass das Scheitern einzig und allein auf ihn selbst zurückfällt. Und was macht der „Loser“ im Bestfall für den Guru? Er kommt ins nächste Seminar oder kauft noch mehr Bücher, weil er ja anscheinend noch nicht so weit ist und noch weitere Anweisung braucht.

Nun ist es aber doch augenscheinlich so, dass manche Menschen de facto aus Gruppen herausstechen und das erlangt haben, was in diesem Kontext als „Glück“ definiert wird, man denke nur an den Guru selbst. Richtig, doch die Voraussetzung dieses Erfolgs war und ist eben der Nichterfolg ihrer Mitmenschen – besonders im Fall des Gurus selbst. Es ist damit schlichtweg falsch, zu diesen Mitmenschen zu predigen, sie alle könnten aufschließen.

Zynisch ist es, ihnen außerdem noch zu sagen, es läge an ihrer Einstellung. Die gebotene Reaktion von einem finanziell erfolgreichen Menschen gegenüber der breiten Masse wäre vielmehr Dankbarkeit. Erfolgreiche Menschen, also reiche oder populäre Menschen, sollten der Gesellschaft unablässig danken, denn ohne diese Gesellschaft wären sie nicht reich oder populär.

In der Verkennung des großen Ganzen liegt übrigens eine erstaunliche Parallele zum anderen Extrem vor: Anarchisten und hardgesottene Punks fordern ja gleichfalls Paradoxes, nämlich die Abschaffung des Staates und der Ordnung, von denen ihr Schmarotzerdasein aber doch erst existenziell abhängt.

Wer lieber bettelt als arbeitet und gleichzeitig Kritik an denen übt, die Geld verdienen, begeht einen ebenso radikalen Denkfehler wie Erfolgsgurus, denn ohne die arbeitenden „Spießer“ gäbe es überhaupt keine Möglichkeit für andere, nicht zu arbeiten.

Wo der Fehler liegt: Es wäre ja traurig, wenn nicht wenigstens theoretisch alle Menschen gleichzeitig glücklich sein könnten, so wie es der Fall ist, wenn man Glück als etwas versteht, das einzelne emporhebt.

Wenn man Glück hingegen nicht daran knüpft, Außergewöhnliches zu erreichen, wie es oben beschriebene Gurus tun, dann ist es immerhin theoretisch möglich, dass alle Menschen glücklich werden, und zwar dann, wenn man Glück als etwas versteht, was durch ein soziales Miteinander erst entsteht und durch eine Verbesserung dieses Miteinanders wächst.

Bescheidenheit, Demut und Achtsamkeit wären demnach wichtigere individuelle Eigenschaften als Disziplin, Fleiß, strategisches Denken oder „Persönlichkeitsentwicklung“, wie es im Selbstmotivations-Jargon heißt. Das sollte man mal wieder auf der Bühne predigen!

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