Die am Heldenplatz-Skandal beteiligten Parteien lassen sich sehr gut mit der Skandal-Triade erfassen. Skandalierter war natürlich in erster Linie Thomas Bernhard, dem die Rede einiger Figuren aus Heldenplatz von der Presse in den Mund gelegt wurde. Daneben ist auch Claus Peymann als Skandalierter zu betrachten, denn auch gegen ihn wurden von Anfang an Vorwürfe erhoben, und zwar, dass er durch die Inszenierung des Skandal-Stücks Heldenplatz von burgtheaterinternen Problemen wie Misswirtschaft und Desorganisation ablenken wolle und durch die Aufführung Steuergelder verschwende. Auch dass die Presse im Heldenplatz-Skandal die Rolle des Skandalierers bekleidete, ist evident. Völlig gemäß der von Kepplinger beschriebenen Ausgestaltung eines Medienskandals war es mit der Kronen Zeitung v. a. die auflagenstärkste Zeitung, die als Leitmedium den Skandal erzeugt und vorangetrieben hat:[78] Vierzehn von zweiundvierzig kommentierenden Beiträgen belegen ihre „Führungsrolle“. Gleichwohl betätigten sich auch andere konservative Tageszeitungen mit hoher Auflage wie Die Presse und der Kurier an der Skandalierung.[79]
Kritische Gegenstimmen waren hauptsächlich in den linken Zeitungen Volksstimme, 1945 bis 1990 die Zeitung der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), und Arbeiter-Zeitung, von 1889 bis 1992 das Organ der SPÖ, zu vernehmen.[80] Diese beiden Blätter verfügten allerdings nicht über die Reichweite einer „Krone“ und konnten der Skandalierung so nicht viel entgegensetzen. Wie die skandalierende Presse so ist auch das empört reagierende Publikum vor allem dem rechts-konservativen Lager zuzuordnen, wobei unter den Bernhard-kritischen Politikern sehr wohl auch viele aus den Reihen der SPÖ und der Grünen zu finden waren.[81] Die Fraktion der wütenden Bürger teilte sich entsprechend der unterschiedlichen Leserschaft der beiden Hauptskandalierer „Krone“ und „Presse“ in einen kleinbürgerlichen Teil, die „Austria-Patrioten“[82], und einen bildungsbürgerlichen, der sich aus dem konservativen Stammpublikum des Burgtheaters rekrutierte, wo die „Presse“-Fraktion eine systematische „Entösterreicherung“ festzustellen meinte.[83]
Neben dieser Skandalierung von Heldenplatz kann man eine vorausgehende Skandalierung durch Heldenplatz konstatieren. Hier zeigt sich eine Besonderheit des Heldenplatz-Skandals, denn auch die Figuren des Stücks – v. a. „die Schusters“, d. h. die Brüder Josef (in indirekter Rede) und Robert sowie Josefs Tochter Anna – skandalieren durch ihre Tiraden den österreichischen Staat und viele seiner Institutionen.[84] Zwar sind diese Verbalattacken innerhalb des Stückes nicht als Skandalierung zu sehen, da die Anschuldigungen dort nicht an eine Öffentlichkeit gerichtet werden. Der Vortrag auf einer Bühne – oder die Wiedergabe der Textstellen in den Medien – ändert diesen Umstand allerdings. Empfänger der Figurenrede sind unter diesen Umständen nicht nur die anderen Figuren im Stück, sondern auch das Theater- bzw. Medienpublikum. Ob Thomas Bernhard bei diesem „fiktiven Skandal“[85] als der Skandalierer anzusehen ist, der über seine Figuren skandaliert, oder ob die Skandalierung gewissermaßen neutral durch das Stück selbst betrieben wird, sei hier offengelassen.[86] Fest steht hingegen, dass Heldenplatz eine öffentliche Anprangerung von Missständen darstellt, wodurch es zu einer Skandalierung wird. Es wird nahezu Gesamtösterreich angeprangert. Die Missstände lauten: Antisemitismus bzw. Nationalsozialismus[87], Korruption[88] und Stumpfsinn[89]. Sie werden vor allem pauschal an die verschiedensten Gruppen und Institutionen gerichtet: Die Politiker[90] und darunter vor allem „die Sozialisten“[91], „die Wiener“[92], „die Intellektuellen“, „das Volk“, „die Parteien und die Kirche“, „[d]ie Industrie“[93], „die Österreicher“[94], „die Architekten“[95] und sogar „die Engländer“[96]. Vereinzelt werden auch bestimmte Personen – allerdings nicht mit Namen – und konkrete Einrichtungen skandaliert. So trifft es den Direktor der Nationalbibliothek[97], den Bundespräsidenten Kurt Waldheim[98] und vor allem Bundeskanzler Franz Vranitzky[99]. Daneben werden das Burgtheater attackiert[100], der Papst[101] sowie „Krone“, Kurier und „Presse“[102]; darüber hinaus „perverse Caritasdirektoren“, Gewerkschaftsführer[103] und schließlich der Musikverein[104].
Auch wenn es den Anschein hat, als sei die Skandalierung durch Heldenplatz gelungen, weil die skandalierten Personen und Institutionen zum Teil mit heftiger Empörung auf die Vorwürfe reagierten, täuscht dieser Eindruck. Sie ist es nicht, weil Empörung im Sinne der Aussagen des Stücks ausgeblieben ist. Wäre die Skandalierung durch Heldenplatz geglückt, hätten nicht Bernhard und Peymann im Kreuzfeuer der Kritik gestanden, sondern Waldheim, Vranitzky und die anderen Skandalierten. Dass dies nicht passiert ist, ist insofern verständlich, da es wie eingangs erwähnt absurd erscheint, die Anschuldigungen des Stücks naiv für voll zu nehmen. Im Stück selbst wird mit der eigenen Skandalierung ironisch gebrochen, wenn Prof. Robert Schuster auf die generelle Sinnlosigkeit von Protesten und Aufregung hinweist.[105] Umso erstaunlicher ist es, dass Kronen Zeitung und Wochenpresse die Sätze erfolgreich zur Hetze verwenden konnten. Die Skandalierung von Heldenplatz brachte dadurch führende Politiker aller Parteien dazu, öffentlich zweifelhafte Aussagen zum Staat, zur österreichischen Vergangenheit und vor allem zur Rolle der Kunst zu machen. Zensurforderungen wurden laut. Dies wiederum führte zur Forderung von links-liberaler Seite, dass die Freiheit der Kunst von Staatsseite unter keinen Umständen einzuschränken sei.[106] Damit eröffnet sich eine dritte Dimension des Heldenplatz-Skandals: Die Skandalierung der Skandalierung. Auch in diesem Fall wurde öffentlich auf einen vermeintlichen Missstand hingewiesen und Schuldige für Missstände benannt. Doch obwohl sich die Kritikpunkte dieser Gegenskandalierung als stichhaltig erwiesen haben, muss auch sie aus skandaltheoretischer Perspektive als gescheitert angesehen werden, denn es folgte keine öffentliche Empörung großen Ausmaßes.
In Hinblick auf die Skandalierungen rund um den Heldenplatz-Skandal lässt sich zusammenfassen: Das Stück selbst imitiert unter Verwendung von ironischen Brechungen, absurden Übertreibungen sowie Verallgemeinerungen eine Skandalierung. Die darin enthaltenen ästhetischen Feinheiten werden von der Presse – allen voran der Kronen Zeitung – wahrscheinlich willentlich übergangen und das Stück mitsamt seinen Schöpfern Bernhard und Peymann wird selbst zum Opfer einer Skandalierung. Obwohl diese auf kapitalen Fehlinterpretationen beruht, ist sie in entsprechenden sozialen Kreisen bis zu einem gewissen Punkt erfolgreich, denn dort reagiert man empört. Diese Instrumentalisierung der Kunst ist wiederum für liberalere Kreise ein Missstand, den diese öffentlich anprangern. Diese dritte Skandalierung erreicht allerdings kein nennenswertes Publikum. In einer Tabelle lassen sich die drei Dimensionen des Heldenplatz-Skandals übersichtlich darstellen:
Skandalierer |
Skandalierte |
empörte Dritte |
Missstand / Ärgernis |
|
Skandalierung durch Heldenplatz |
„Die Schusters“ in Heldenplatz / T. Bernhard |
Nahezu alle Institutionen Österreichs |
Keine |
Antisemitismus bzw. Zustand der österr. Gesellschaft insg. |
Skandalierung von Heldenplatz |
Rechts-konservative Presse |
T. Bernhard u. C. Peymann |
Kleinbürgerliche u. rechts-konservative Kreise u. weite Teile der Politik |
Heldenplatz-Text u. -Inszenierung |
Skandalierung der Skandalierung von Heldenplatz |
Links-liberale Presse |
Kleinbürgerliche u. rechts-konservative Kreise u. weite Teile der Politik |
Links-liberale Kreise |
Reaktion auf Heldenplatz-Text u. -Inszenierung |