H. M. Kepplingers Darstellung der Mechanismen des Skandals lässt sich besonders gut für die Analyse des Verlaufs des Heldenplatz-Skandals nutzen, weil sie ein Phänomen fokussiert, das darin eine tragende Rolle spielte: Deutungsschemata. Wenn sich eine Gruppe von Menschen in einer Situation, die keine sicheren Informationen gewährt, ein Urteil bilden soll, bildet sich schnell eine Gruppennorm aus, der sich auch die Mitglieder, die ursprünglich eine andere Meinung haben, mit hoher Wahrscheinlichkeit unwissentlich anschließen werden. Die Gruppennorm wird nicht in einer offenen Diskussion herausgearbeitet, sondern der Gruppe von ihren Meinungsführern oktroyiert. Auch wenn diese um die Unsicherheit ihres eigenen Urteils wissen müssten, wird paradoxerweise auch ihre eigene Überzeugung von der Richtigkeit ihrer Hypothese durch die Gruppenreaktion gestärkt.[107] Kepplinger wendet dieses sozialpsychologische Phänomen auf Skandale an:
Am Beginn eines Skandals beurteilen verschiedene Personen den fraglichen Sachverhalt meist unterschiedlich. […] Je überzeugender die Deutungsmuster derjenigen sind, die den Sachverhalt für einen Skandal halten, und je mehr die Fakten ihre Sichtweise zu bestätigen scheinen, desto stärker gleichen sich ihnen die Sichtweisen anderer Menschen an. Ihre Sichtweise wird zu einer allgemein verbindlichen Norm. […] Sind solche Schemata einmal etabliert, erscheinen alle Fakten oder Interpretationen, die ihnen widersprechen, als falsch oder irreführend […]. Dagegen wird alles, was die Schemata zu bestätigen scheint, bereitwillig akzeptiert und notfalls stimmig gemacht. […] Die eigene Sichtweise erscheint dabei nicht als subjektive Meinung, sondern als objektive Einsicht in die Natur der Sache. Anders denkende haben folglich nicht nur eine unmögliche Meinung. […] Sie verweigern sich der Wirklichkeit.[108]
Am Verlauf des Heldenplatz-Skandals lassen sich die Genese und das Wirken von Deutungsschemata beispielhaft nachverfolgen. Dies liegt zum einen an der Schlüsselrolle, die die Kronen Zeitung darin gespielt hat. Diese war und ist auflagenstärkste Zeitung in Österreich, was sie ungeachtet ihrer Qualität zum Leitmedium macht. Dadurch, dass sie den Skandal quasi aus der Taufe gehoben hat, konnte sie mit großer Wirksamkeit Deutungsmuster etablieren, an denen sich viele später berichtende Zeitungen orientiert haben. Dazu kommt, dass man die „Krone“ eindeutig als rechts-konservatives Blatt einordnen muss. Die Art ihres Journalismus ist damit nicht als neutral einzuschätzen, sondern folgt entsprechenden ideologischen Grundzügen. Dies harmoniert insofern mit Kepplingers Theorie, als darin nicht behauptet wird, Deutungsmuster würden absichtlich geschaffen. Gerade weil auch Journalisten unbewusst von sozialen Einflüssen gelenkt werden, machen Zeitungen mit eindeutiger Ausrichtung wie die „Krone“ das Zusammenspiel von Gruppennorm und scheinbar individuellen Deutungen besonders gut sichtbar. Eine Konzentration auf die Kronen Zeitung bietet sich darüber hinaus an, weil sich in den zahlreichen Leserbriefen zum Skandal und in den Reaktionen der Politiker nachvollziehen lässt, wie erfolgreich die Deutungsmuster der Zeitung wirkten. Doch die „Krone“ und auch die anderen Zeitungen haben während des Skandals nicht nur neue Deutungsmuster geschaffen. Wie sich zeigen lässt, haben sie auch auf Muster zurückgegriffen, die schon weit im Vorfeld des Heldenplatz-Skandals ausgebildet worden waren. Der Heldenplatz-Skandal gibt damit ein sehr gutes Beispiel auch für die Genese von Mustern ab. Diese prägenden historischen Ereignisse sollen nun kurz beleuchtet werden, bevor die im Heldenplatz-Skandal wirkenden Deutungsmuster selbst betrachtet werden.