Der Normbruch ist in der modernen Kunst Gebot und hat zu einer engen, wenn nicht substanziellen Verquickung von Literatur und Skandal geführt:
Zugespitzt kann man formulieren, dass die Literatur der Moderne schlechthin Skandal ist. Der Skandal ist notwendiges Wesensmerkmal moderner Literatur, liegt im Begriff der Moderne eingeschlossen und ist daher ein Qualitätsmerkmal moderner Literatur.[55]
Dies war nicht immer so, denn den größten Teil der kulturellen Zeitrechnung Europas unterlag auch das Schreiben festen Regeln, wie sich beispielhaft an der Poetik des Aristoteles zeigen lässt.[56] Diese leugnete die literarische Qualität folgender Elemente: Des Unmöglichen, Unvernünftigen, Unsittlichen, Widersprüchlichen und Unästhetischen. Wer sich seine Meriten mit Kunst verdienen wollte, hielt sich an fixe Vorgaben und unternahm keine ästhetischen Ausbruchsversuche. Sich widersetzende Schriftsteller attackierten in der Darstellung der Machthaber nicht nur die Literatur selbst, sondern auch das, woraus sich deren Sinn ableitete: Gott. Da Regelbrüche von der Ästhetik somit nicht erfasst wurden, musste man sie mit Unfähigkeit oder Unwilligkeit erklären, wobei letztere zu bestrafen war. Der Skandal zeigte also Sünden an.
Seit der Moderne wird dieses Kunstverständnis genau umgedreht. Die vormals sanktionierten Inhalte werden nun elementar. Moderne Literatur greift damit die Normbereiche Erkenntnis, Sittlichkeit und Ästhetik gleichermaßen an:[57] Indem die Kunst ihren Zweck verinnerlicht und nicht mehr mit externen Erklärungen der Welt kompatibel sein muss, erschafft sie ein provozierendes Gegengewicht zu etablierten begrifflich-rationalen Darstellungs- und Erkenntnisweisen. Gleiches gilt für den Umgang mit (un)sittlichen Inhalten. Auch hier löst sich die Kunst von den Vorgaben anderer Systeme und stellt eigene Betrachtungen an. Normkonflikte zwischen der Kunst und anderen Feldern sind seit der Moderne damit vorprogrammiert.
Durch ihre Emanzipation definiert die Kunst aber vor allem ihre ästhetischen Regeln selbst. Da es nicht mehr genügt, bestimmte Regelanwendungen nachzuweisen, stellt sich für jedes einzelne Werk die Frage, ob es überhaupt als Kunst einzustufen ist. Die Beantwortung der Frage lässt im Prinzip nur zwei Argumentationswege offen, den positiven und den negativen: Man könnte erstens argumentieren, dass etwas Kunst ist, weil es anderer Kunst gleicht. Damit würde man aber genau auf die Arbeiten verweisen, die ihren ästhetischen Status durch außerästhetische Prinzipien gerechtfertigt haben. Da dieser Weg ausgeschlossen werden soll, bleibt zur Ernennung von Kunst in der Moderne nur die Abgrenzung übrig, und zwar zunächst von den teleologischen Kunstwerken der Vormoderne, danach auch von den bereits modernen Vorgängerwerken. Statt Normkonformität gilt es heute also, die Kunst mit jedem Werk neu zu erfinden. Paradoxerweise ist damit der ästhetische Normbruch zu einer ästhetischen Norm geworden, der Skandal zur Regel.
Diese Einordnung des Skandals in das moderne Kunstsystem ist nicht nur auf den ersten Blick verzwickt, sondern logisch widersprüchlich, denn aus ihr folgt die Definition: Kunst ist, was keine Kunst ist. Dass diese Bestimmung von Kunst nicht idealistisch auf das Wesen der Kunst zielen kann, sondern vielmehr in einer bestimmten Art Kunst-Diskurs wurzeln muss, lässt sich neben dem Hinweis auf die Paradoxie in der Definition mit der banalen Tatsache beweisen, dass auch in der Moderne nicht alles zu Kunst geworden ist. Wenn nämlich das Hauptkriterium für Kunst die Abgrenzung von der Kunsttradition wäre, müsste gerade das, was (noch) keine Kunst ist, zu Kunst werden. So ist es aber mitnichten. Es muss also auch heute, in (post)moderner Zeit, offensichtlich weitere, positive Kriterien geben, welche die Kunst definieren. Der Normbruch an sich reicht dafür nicht aus. Er muss ästhetisch eingeschränkt bzw. modifiziert werden.