Thomas Bernhard „Heldenplatz“ – Der Skandal | II.2. Der Skandal als Ausweis der Avantgarde

Der Prozess der ständigen Ablösung von der Kunstgeschichte kann darum wie von S. Neuhaus als systemimmanent aufgefasst werden. Skandale sind demnach als „komplementär zum Regelsystem der Gesellschaft[58] zu sehen. Das bedeutet, dass der Kunst-Skandal im Grunde eben keinen Normbruch darstellt, sondern Normen folgt. Es wird zwar gefordert, dass ein Kunstwerk in Opposition zur Tradition zu stehen hat, diese Opposition wird aber von Diskursführern nach bestimmten ästhetischen Normen, die Teil des kulturellen Basiswissens sind und über bestimmte Bildungswege vermittelt werden, bewertet.[59] Der Normbruch des Kunstskandals nimmt damit die Form eines Spiels an, dessen Spieler den diskursiven Regeln zu folgen haben, wenn sie Erfolg haben wollen. Hält er sich an diese Regeln, ist der Skandal für den Künstler „der direkte Weg zum Erfolg“[60].

Nach Neuhaus findet sich das Skandal-Spiel in zwei Varianten, der „eher affirmative[n]“ und der „radikale[n]“.[61] Skandale ersterer Art beziehen sich auf Normen, die bereits nicht mehr uneingeschränkt gelten und neu verhandelt werden, radikale Skandale brechen mit Tabus und betreten normatives Neuland. Der Verlauf des Spiels ist schnell skizziert: Ein Künstler bricht mit seinem Werk ein Tabu, d. h., er fordert neue Normen. Mit dieser Tat attackiert er die Diskursführer, die um ihre Macht, welche sich auf den normativen Status quo stützt, fürchten. Sie versuchen, den Rebellen zu stigmatisieren, doch wenn der Tabubruch latente Wünsche der Rezipienten bedienen kann, misslingt diese Taktik. Das Publikum reagiert und verschafft dem Tabubrecher damit ein Forum, wodurch der Neubewertungsprozess bereits in Gang gekommen ist. Führt er zu neuen Normen im Sinne des rebellierenden Künstlers, wird dieser rückblickend und schrittweise zum Avantgardisten erklärt, zunächst von Experten und Kollegen, dann von Kulturpolitikern, die um ihr Renommee fürchten müssten, wenn sie diese Dynamik aufhalten wollten. Nach anfänglicher Opposition zu den herrschenden Werten rücken Skandalwerk und ‑künstler immer weiter in die Mitte der Gesellschaft vor bzw. die Gesellschaft weitet ihr normatives Verständnis so weit aus, bis der ehemalige Avantgardist einverleibt wurde. Nachrückende Künstler erleben diesen bereits als Teil des Establishments und müssen sich ihrerseits in Opposition zu ihm begeben und neue Skandale provozieren.[62]

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[58] Neuhaus: Sperrbezirk, S. 42.
[59] Vgl. ebd., S. 44-45.
[60] Ebd., S. 46.
[61] Ebd.
[62] Vgl. ebd. S. 46-50.

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