5.3 – Schelers Gottesbegriff

Scheler sieht in seinem Weltbild nicht weniger als die Überwindung des Jahrhunderte herrschenden Gegensatzes zwischen „‚teleologische(r)‘ und  ‚mechanische(r)‘ Erklärung der Weltwirklichkeit“[1]. Am Schluss des fünften Kapitels skizziert er aufbauend auf seinen zuvor dargelegten Überlegungen ein Bild Gottes. Wenn man diesen als geistiges Sein auffasst, kann ihm, nach Scheler, ebenso wenig eine Ursprungskraft zugesprochen werden wie dem Geist des Menschen. Folglich hat Gott für Scheler keine schöpferische Macht, sodass eine creatio ex nihilo der Welt unmöglich ist. Nicht ein allmächtiger Gott steht für Scheler damit am Beginn, sondern eine „Urspannung von Geist und Drang[2]. Die Welt wird in diesem Modell vom Drang erschaffen, wobei der Drang, so wie im Menschen der Trieb, vom Geist beeinflusst werden kann. Scheler zu Folge hat der Geist den Drang enthemmt, um sich im damit ausgelösten Weltprozess selbst zu verwirklichen. So wird Gott „im Menschen und durch den Menschen“[3] verwirklicht, da dieser das einzige Sein im Kosmos ist, das über Geist verfügt. Die Welt ist also in Schelers Bild analog zum menschlichen Leib die Sphäre des Dranges, während auch der göttliche Geist eine Ebene höher „schwebt“ und nur indirekt auf das Materielle einwirken kann, indem er den Drang lenkt. Wie sich im letzten Abschnitt zeigt, ist allerdings auch Schelers Gottes- und Weltbild nicht frei von einer übergeordneten Zielsetzung:

Erst in der Bewegung dieses gewaltigen Wettersturms, der die „Welt“ ist, kann eine Angleichung der Ordnung der Seinsformen und der Werte an die tatsächlich wirksamen Mächte und umgekehrt dieser an jene erfolgen. Ja im Verlauf dieser Entwicklung kann eine allmähliche Umkehrung des ursprünglichen Verhältnisses eintreten, nach welchen die höheren Seinsformen die schwächeren, die niedrigeren die stärkeren sind. Anders ausgedrückt: Die gegenseitige Durchdringung des ursprünglich ohnmächtigen Geistes und des ursprünglich dämonischen, d. h. gegenüber allen geistigen Ideen und Werten blinden Dranges: die werdende Ideierung und Vergeistigung der Drangsale, die hinter den Bildern der Dinge stehen, und die gleichzeitige Ermächtigung d. h. Verlebendigung des Geistes ist das Ziel und Ende endlichen Seins und Geschehens. Der Theismus stellt es fälschlicherweise an seinen Ausgangspunkt.[4]

Fasst man Schelers Modell einmal in aller Kürze zusammen, sagt er, dass vor der Welt eine „Urspannung von Geist und Drang“ war, aus der die Welt durch Enthemmung des Dranges durch den Geist entstanden ist, mit dem Zweck, dass sich beide Spannungspole am Ende des Weltprozesses gegenseitig durchdrungen haben. Mit dieser These tauchen, wie bei allen Thesen dieser Art, massive logische Probleme auf. Zunächst: Dieser Prozess der gegenseitigen Durchdringung soll zeitlos sein, wobei „Prozess“ so viel wie „Fortschreiten in der Zeit“ bedeutet. Einen Prozess kann es ohne Zeit nicht geben. Aber nicht nur diese Formulierung ist problematisch, auch anderes. So muss man weiter fragen, wie überhaupt die Urspannung von Geist und Drang entstanden ist, aus der die Welt entsteht. Wenn sie sich selbst erschaffen haben soll, ist sie eine creatio ex nihilo, und eine solche weist Scheler ab. Die creatio ex nihilo besagt, dass Gott die Welt aus dem Nichts erschaffen hat, was – klarerweise – nicht befriedigt. Scheler sagt deshalb, es muss den Drang schon gegeben haben, bevor der Geist auf ihn einwirken und ihn enthemmen konnte. Heißt das, dass der Drang bereits die materielle Welt ist oder erzeugt er sie nur? Man kann auch fragen: Was bezeichnet das Wort „enthemmen“ in diesem Kontext? Heißt es erschaffen? Dann fragt sich: Wie erschafft der Drang die Materie, wenn nicht aus dem Nichts? Heißt es nicht erschaffen, sondern so etwas wie „auslösen“, dann müssen Drang und materielle Welt im Grunde dasselbe sein und man muss fragen, wie die Welt und der Drang vor der Enthemmung existiert haben. Sie müssten existieren und nicht existieren zugleich.

Zusätzlich zu diesen Widersprüchen widerspricht sich Scheler selbst, denn er hatte zunächst behauptet, dass in der materiellen Natur keine höhere Logik am Werk ist. Dann aber stellt er es im Gegenteil so dar, als wären alle Seinsformen des Kosmos von Sublimierung betroffen, für die sich ein lenkender Geist verantwortlich zeichnet, der auf das Ziel ausgerichtet ist, sich in diesem Sublimierungssprozess selbst verwirklicht.

Sowohl der Materialismus bzw. der Naturalismus, als auch der Idealismus sind monistisch ausgerichtet, indem erstere unterstellen, alles würde durch die physikalischen Gesetze geregelt, letzterer hingegen Gott diese Eigenschaft zuweist. Scheler scheint im Grunde beide Prinzipien miteinander zu identifizieren.


[1] S. 70.

[2] Ebd.

[3] S. 71.

[4] Ebd.

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