2.2 – Der Instinkt

Das nächsthöhere seelische Vermögen ist der Instinkt, den Scheler „ausschließlich vom sog. Verhalten des Lebewesens aus definieren“ will, da dieses „psychophysisch indifferent“ [1] ist. Jedes Verhalten ist demnach neben einer körperlichen Reaktion immer auch als mittelbarer oder unmittelbarer Ausdruck von inneren Zuständen anzusehen und muss deshalb sowohl psychologisch als auch physiologisch erklärt werden. Instinktives Verhalten zeichnet sich dadurch aus, dass es erstens „sinnmäßig“ ist, d. h., es muss „für das Ganze des Lebensträgers selbst, seine Ernährung sowie Fortpflanzung […] teleoklin sein“[2]. Zweitens muss es „nach einem festen, unveränderlichen Rhythmus ablaufen“[3], der nicht erlernt ist, sondern dem Tier von Geburt an als abspulbereites Programm mitgegeben worden ist, wie zum Beispiel Vorbereitungen zur Eiablage. Ein drittes Merkmal instinktiven Verhaltens ist, dass es nicht dem Individuum dient, sondern dem „Artleben als solches“[4].

Dieses Merkmal scheidet das instinktive Verhalten erstens scharf von „Selbstdressur“ durch „Versuch und Irrtum“ [trial-and-error] und allem „Lernen“, zweitens von allem „Verstandes“gebrauch, die beide, wie wir sehen werden, primär individual-, und nicht artdienlich sind. Das instinktive Verhalten ist daher niemals eine Reaktion auf die von Individuum zu Individuum wechselnden speziellen Inhalte der Umwelt, sondern je nur auf eine ganz besondere Struktur, eine arttypische Anordnung der möglichen Umweltteile.[5]

Als letztes Merkmal instinktiven Verhaltens gibt Scheler an, dass es in gewisser Weise als „fertig“ bezeichnet werden muss, da es nicht davon abhängt, wie oft ein Tier versucht, eine bestimmte Situation zu bewältigen. Der Instinkt wird also weder erlernt, noch in seinen Grundzügen verändert, weswegen er der „Morphogenesis der Lebewesen selbst eingegliedert [ist]“[6]. Er ist damit mitverantwortlich für Form und Funktion des Tierkörpers.

Ausgelöst wird der Instinkt durch Sinnesreize, wobei verschiedene Reize denselben Instinkt auslösen können.

Was ein Tier vorstellen und empfinden kann, ist durch den Bezug seiner angeborenen Instinkte zur Umweltstruktur a priori beherrscht und bestimmt. Dasselbe gilt von seinen Gedächtnisreproduktionen: sie erfolgen stets im Sinne und im Rahmen seiner vorherrschenden Instinktaufgaben, ihrer Oberdetermination, und erst in sekundärer Weise ist die Häufigkeit der assoziativen Verknüpfungen der bedingten Reflexe und der Übungen von Bedeutung.[7]

Der Instinkt ist aufs Engste mit der Art, die ihn besitzt, verknüpft. Erst durch den Instinkt wird eine Art, was sie ist. Dadurch ist der Instinkt artintern genauso unveränderlich wie der „‘Bauplan‘ eines Tieres“. Insbesondere Gewöhnung und Übung haben keinen Einfluss auf den Instinkt.

In der folgenden Passage behauptet Scheler, dass sich assoziatives Gedächtnis und Intelligenz – beides höhere Seelenkräfte – aus dem Instinktverhalten durch Dissoziation entwickelt haben. Beide Kräfte seien sowohl eng miteinander verknüpft, wie auch mit der Individuierung des Einzelwesen aus der Artgebundenheit. „Schöpferische Dissoziation, nicht Assoziation oder ‚Synthese‘ (Wundt) einzelner Stücke, ist also der Grundvorgang der psychischen Entwicklung“, folgert Scheler[8].

In Hinblick auf den Instinkt und Wissen führt Scheler aus:

Versucht man das instinktive Verhalten psychisch zu deuten, so stellt es eine untrennbare Einheit von Vor-Wissen und Handlung dar, sodaß niemals mehr Wissen gegeben ist, als in den nächsten Schritt der Handlung gleichzeitig eingeht. […] Ferner ist das Wissen, das im Instinkte liegt, nicht sowohl ein Wissen durch Vorstellungen und Bilder oder gar durch Gedanken, sondern ein Fühlen wertbetonter und nach Werteindrücken differenzierter, anziehender und abstoßender Widerstände.[9]

Gegenüber dem Gefühlsdrang ist der Instinkt als spezialisierter anzusehen, da er auf spezifische Umweltobjekte gerichtet ist.


[1] S. 18.

[2] Ebd.

[3] S. 18 f.

[4] S. 19.

[5] S.19 f.

[6] S. 21.

[7] Ebd.

[8] S. 23.

[9] S. 24.

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