Thomas Bernhard „Heldenplatz“ – Der Skandal | I.4. Die Form eines Skandals

Wie beschrieben hat der Skandal eine Nähe zum Theater: Die Beteiligten ähneln Schauspielern mit ihrem Publikum, und auch sein Ablauf lässt sich, zumindest theoretisch, als Drama in fünf Akten beschreiben. Und auch wenn man keine so strenge Form erkennen will, bleibt zumindest die „Dramatisierung“ durch die Skandalierer ein tragendes Element, denn über die skandalösen Ereignisse wird von den skandalierenden Medien nicht im neutralen Nachrichtenstil berichtet; vielmehr werden sie als Emotionen erregendes Geschehen mit Haupt- und Nebenfiguren (nach)erzählt, das sich am „moralischen Leitcode“ entlanghangelt.[30] Angesichts der Tatsache, dass die Skandalierer heutzutage mit den Medien bzw. den Journalisten gleichzusetzen sind, kann man den Skandal deshalb formal als „Mediennarrativ[31] bestimmen. Diese Skandal-Erzählung ist allerdings trotz aller Dramatisierungen nicht gänzlich fiktiv. Auch wenn die Skandalierung nicht auf Tatsachen beruht bzw. einige fingierte Elemente enthält, so muss doch das in die Skandal-Triade involvierte Skandalpersonal real sein. Somit muss der Skandal-Erzählung stets ein „Transformationsprozess“ vorangehen, der aus den sozialen Entitäten Journalist, Akteur und Publikum die literarischen Entitäten Erzähler, (Anti-)Held und Helfer des (Anti-)Helden macht. Der Skandal als Geschichte reduziert damit die Komplexität sozialer Gegebenheiten und struktureller Zwänge und schildert sie als individuelle, frei gewählte Handlungen.[32]

Die Skandal-Erzählung selbst zerfällt in einen Haupt- und mehrere Nebenhandlungsstränge. Da der Handlungsfaden der Skandal-Narration aus moralischem Garn gesponnen wird, ist es nicht verwunderlich, dass die Themen Geld, Sex und Macht eine wichtige Rolle spielen, denn diese Bereiche unterliegen besonders vielen bzw. besonders strengen Normen.[33] Weil sie jeden Menschen betreffen, drängen sie sich des Weiteren auch in Hinblick auf das öffentliche Interesse auf. Ihr Potenzial für Verallgemeinerungen ist extrem hoch und sie können an bereits bestehende Deutungsmuster anknüpfen. Auch in der Schilderung des Personals muss sich die Skandal-Erzählung auf die Moral beziehen. So eignen sich als Vorlage für den Anti-Helden in Skandalierungen nur Personen, die über „moralische Fallhöhe“[34] verfügen. Kennt die Geschichte Helden, die den Fall des Anti-Helden initiieren, d. h. wenn sein Scheitern nicht auf individuelle Fehler oder das Schicksal zurückgeführt wird, müssen diese ebenfalls moralisch integer sein. Der Unterschied zwischen ihnen und den Anti-Helden ist, dass ihre Integrität die ganze Erzählung über aufrechterhalten bleibt. Wo dies nicht der Fall ist und sich ihr Handeln im Laufe des Skandals beispielsweise als egoistisch motiviert entpuppt, verliert die Skandalierung schlagartig an Legitimität und das Blatt kann sich zugunsten des Anti-Helden wenden.

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[30] Vgl. dazu Burkhardt: Medienskandal, S. 135-137, 144-146.
[31] Friedrich: Literaturskandale, S. 13; Hervorhebung durch d. Verf.
[32] Vgl. ebd., S. 13-14.
[33] Hierzu und zum Folgenden vgl. Bulkow: Skandalforschung, S. 15-17.
[34] Ebd., S. 15.

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