Der Skandal wurde bisher vor allem auf seine räumlichen und zeitlichen Teile sowie auf seine Form hin untersucht. Die Frage nach den Ursachen von Skandalen ist dabei weitgehend offengeblieben, wenngleich sie durch den Verweis auf den immer beteiligten öffentlich postulierten Normbruch bereits tangiert wurde.[35] Ein prominenter Ansatz, den Skandal aus soziologischer Perspektive zu erklären, sind funktionalistische Skandaltheorien. Der Funktionalismus lässt sich in Anlehnung an die Systemtheorie wie folgt umreißen:[36] Die Gesellschaft ist in dieser Theorie ein System, das normalerweise in einem ausgeglichenen, harmonischen Zustand ist – vergleichbar einem gesunden Körper. Normen definieren den Normalzustand, indem sie das Verhalten der Mitglieder der Gesellschaft ihm entsprechend regulieren. Auch wenn sie abhängig von der jeweiligen Kultur sind, sprich nur innerhalb eines bestimmten Systems gelten, so reklamieren Normen doch für das entsprechende System absolute Gültigkeit. Wird mit ihnen gebrochen, gerät das System aus dem Normalzustand und muss diesen mittels einer Funktion wieder in Kraft setzen. Funktionalistische Theorien suchen also nicht nach Kausalitätsgesetzen, nach denen gleiche Ursachen immer gleiche Wirkungen hervorbringen, sondern stützen ihre Betrachtung auf Finalität.[37] Ein Phänomen erklärt sich nicht aus einer ihm vorangehenden Ursache, sondern aus seinem Zweck.
Der Skandal folgt diesem Ansatz gemäß keiner singulären Regel, die feststellt, dass er immer dann auftritt, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, sondern ist eine Funktion, die den Erhalt bestimmter sozialer Prinzipien sicherstellt. Der Mensch ist funktionalistisch betrachtet immer ein soziales Wesen und daher an Normen gebunden, denn Normen sind notwendige Folge des sozialen Lebens.[38] Wo nun die Normen verletzt werden, ist der Skandal ein mögliches Mittel zu ihrer Wiederherstellung. Genau das ist der Grund, warum der Skandal nicht als unmittelbare Wirkung bestimmter Ursachen gesehen werden kann. Er tritt als Funktion erst in Kraft, wenn andere Funktionen ausgefallen sind, ist aber nur ein Ersatzmittel unter vielen. Dies sieht man daran, dass nicht auf jeden Normbruch ein Skandal folgt, nicht einmal auf jeden öffentlich gemachten. Die zwei wichtigsten funktionalistischen Skandaldeutungen sollen nun en détail betrachtet werden.
a) Normerhalt und Integration
Der Funktionalismus zählt Émile Durkheim (1858-1917) zu seinen Gründungsvätern, sodass auch funktionalistische Skandaltheorien in seinen soziologischen Analysen ihren Anfang nehmen.[39] Durkheim stellt die These auf, dass Gesellschaften über ein Kollektivbewusstsein verfügen, durch das der Einzelne in seinem Handeln im Sinne der Allgemeinheit geleitet wird. Ein Skandal tritt gemäß dieser Annahme dann auf, wenn eine individuelle Handlung den vom Kollektivbewusstsein vorgegebenen Normen zuwiderläuft, und hat zwei Funktionen: Erstens zeigt der Skandal die verletzten Normen an, wodurch diese in ihrer Wirkung verstärkt werden. Zweitens führt der kollektive Aufschrei zur Stärkung der aufschreienden Gemeinschaft, denn diese solidarisiert sich im Akt der Abgrenzung von ihren Feindbildern.
Eine ähnliche Funktion spricht der Anthropologe Max Gluckman (1911-1975) dem Skandal zu.[40] In seiner Analyse mit dem programmatischen Titel „Klatsch und Skandal“ untersucht er die Wirkungsweise dieser beiden Phänomene innerhalb exklusiver und von Auflösung bedrohter Kleingruppen. Es zeigt sich, dass solche Gruppen ihren traditionellen Wertekanon oft überhaupt nur negativ durch Klatsch und Skandale erhalten können. Oberflächlich betrachtet bestimmen zwar Konkurrenzdenken und Missgunst das Verhalten in diesen Gemeinschaften, doch hinter diesen asozial anmutenden Verhaltensweisen lassen sich im Negativverfahren basale gemeinsame Werte finden.
b) Strategische Funktionen eines Skandals
Problematisch an der an Durkheim angelehnten Sichtweise, dass Skandale die geltenden Normen wiederherstellen, ist vor allem die Tatsache, dass moderne liberale Gesellschaften nicht über ein Kollektivbewusstsein verfügen, das allen Mitgliedern dieselben Ziele vorgibt. Normen etablieren sich heute vor allem innerhalb sozialer Teilgruppen, sodass der Skandal auch nicht die Funktion haben kann, allgemein akzeptierte Normen wieder instand zu setzen. Es liegt daher näher, ihn als Konfliktform zwischen Subsystemen mit unterschiedlichen Normen (Partialinteressen) anzusehen.[41] Der Skandal ist demnach ein strategisches (Macht‑)Mittel zur Durchsetzung der Interessen von Gruppen und kein gesamtgesellschaftlicher Selbstreinigungsmechanismus.
Da die Politik das Paradefeld für Machtkämpfe aller Art – insbesondere öffentlich ausgetragener – ist, wird in erster Linie der politische Skandal als Konfliktform gedeutet. Für S. Neckel sind politische Skandale[42] aufgrund ihres Hinauslaufens auf ultimative Entscheidungen sogar eine „beispielhafte Form“ von Konflikt.[43] Auch R. Hitzler plädiert für diese Variante, wenn er den Skandal als einen Zug im „Spiel um Macht“[44] betrachtet:
Skandalieren, d. h., etwas als Skandal zu etikettieren, bedeutet hier also, eine (woraus auch immer resultierende) Definitionsmacht selektiv einzusetzen, um eine Person im Zusammenhang mit einem „empörungswürdigen“ Ereignis oder Sachverhalt zu diskriminieren.[45]
Später wird mit Bezug auf die beteiligten Akteure präzisiert:
Diese Form der diskreditierenden Skandalierung ist in der Regel gemeint, wenn […] von Skandal die Rede ist. Man geht also üblicherweise davon aus, daß es die Konkurrenz im Spiel um Macht ist, die einen Akteur skandaliert. Damit ist aber zunächst noch nichts gewonnen: Grundsätzlich kann nämlich jeder andere Akteur bzw. jede beliebige Akteurskonstellation Konkurrenz sein […]. Gerechnet wird mit potentiellen Skandalierern natürlich vor allem aus den Reihen politisch engagierter Akteure, also aus den Reihen politischer Gegner von konkurrierenden Parteien, aus den Reihen offener und insbesondere verdeckter parteiinterner Widersacher und nicht zuletzt aus den Reihen einschlägig befaßter, (nicht nur) opponierender publizistischer Meinungsmacher.[46]
Der Skandal als strategisches Mittel zielt auf den Erwerb und den Erhalt von Macht auf horizontaler Ebene. Wie der von Hitzler gezogene Vergleich mit einem Spiel verdeutlicht, geht es darum, den Skandal als Mittel einzusetzen, mit dem sich Macht akkumulieren lässt. Man kann den Skandal alternativ allerdings auch als Funktion auf vertikaler Ebene betrachten, nämlich dann, wenn man ihm die Aufgabe zuspricht, die Machtausübung der Herrschenden zu Gunsten der Beherrschten zu regulieren.[47]