Für die Neurowissenschaften „(sind) Wahrnehmungsvorgänge neuronale Vorgänge, die der Aktivität der Sinnesorgane bedürfen“. Letztere nehmen dabei Umweltobjekte und Ereignisse in Teilaspekten wahr und wandeln diese Aspekte in neuronale Ereignisse um, das heißt, Umweltreize werden auf die physikalisch-chemische Funktionsebene des Gehirns überführt. Die Wahrnehmung ist neurologisch betrachtet ein aktiver und schöpferischer Prozess, ein Vorgang, der zwischen Synthetisierung und Differenzierung vermittelt. Beispielhaft deutlich wird dies beim Sehen, da „einerseits visuelle Signale auf der Netzhaut des Auges wiedergespiegelt [sic!] werden, andererseits auf dem Weg zur Sehrinde entsprechend der Spezialisierung der Nervenzellen wieder in feinste Nervenfasern verteilt werden“. Wie dies allerdings bis in die letzte Instanz geschieht, kann trotz fortgeschrittener technischer Methoden zur Hirnuntersuchung und eines sich vergrößernden theoretischen Überbaus von den Neurowissenschaften bis dato nicht erklärt werden. Sie können lediglich konstatieren, dass der Wahrnehmungsvorgang äußerst komplex ist und sein Gelingen nicht vollends erklärt werden kann[1].
Fest steht hingegen, dass die Wahrnehmung aus neurowissenschaftlicher Perspektive sowohl für Tiere als auch für den Menschen als ein Mittel zur Orientierung, das heißt letztlich zur Überlebenssicherung („Nahrungssuche, Beutefang, Schutz vor Feinden, Erkennen von Artgenossen und Sexualpartnern“) angesehen wird. Durch diese Funktionalisierung ergeben sich Prioritäten in der Wahrnehmung einer jeden Art; nicht alle Umweltreize sind von Belang. Jede Spezies wählt vielmehr durch ihre Wahrnehmung genau die Umweltmerkmale aus, die ihr Überleben sichern. Die Wahrnehmung ist also ein Selektionsverfahren, durch das bestimmte Umweltaspekte prinzipiell von ihr ausgeschlossen werden sollen. Dadurch erhält die Wahrnehmung einen hypothetischen Charakter, denn ob etwas Wahrgenommenes dem Überleben wirklich dient, steht nicht fest. Es können Irrtümer und Täuschungen vorkommen.
Da jedes Lebewesen einige Aspekte aussondert und die übrigen zu einem individuellen Bild zusammenfügt, wird die Wahrnehmung von den Neurowissenschaften zu den Kognitionsleistungen – das sind Erkenntnisleistungen – gezählt. Damit beanspruchen die Neurowissenschaften Forschungsfelder, die traditionell von den Disziplinen Philosophie und Psychologie behandelt werden und wollen als „Wissenschaft des Geistes“ verstanden werden, welche „Funktionen wie Wahrnehmen und Urteilen, Sprechen, Ich und Gedächtnis mit der Autopoiese neurophysiologischer Organismen“ verbindet. Dass eine Analyse des Geistes mit naturwissenschaftlich-empirischen Methoden in allen Aspekten möglich ist, zweifeln Philosophie und Psychologie hingegen stark an. [2]
[1] Unter anderem an diesem Punkt setzt philosophische Kritik an: Wenn Wahrnehmen von der Neurowissenschaft als ein aktiver und schöpferischer Prozess aufgefasst wird, muss diese auch die Frage nach einer aktiven und schöpferischen Instanz beantworten können, welche sich zwangsläufig ergibt. Dass dies bislang nicht gelingt – wenn es überhaupt gelingen kann – zeigt sich deutlich in Kapitel 4.
[2] Vgl. dieselbe, Kap. 2, S. 31- 36.