Die Auseinandersetzung mit Albert Camus ist sehr intensiv. Ich habe nur zwei weitere Kapitel des Mythos des Sisyphos bearbeitet und nun ein wenig Scheu davor, sie zusammenzufassen, denn sie erscheinen mir sehr dicht. Aber darum ist es natürlich umso wichtiger.
Camus‘ Stil, der fern ab von einer gekünstelten Wissenschaftlersprache ist, lässt es zu, sich ganz auf die inhaltlichen Aspekte zu konzentrieren, was aber nicht bedeutet, dass das Lesen dadurch leicht und locker werden würde. Im Gegenteil, die Klarheit der Sprache, die Ich-Form und der Mut Camus‘ zu entschiedenen Urteilen über andere Denker bringt mich viel näher an das Thema heran – und das Thema, das ist Tod, Selbstmord und Sinnlosigkeit.
Wie schon einmal erwähnt, ich lese nicht das erste Mal Camus, aber das erste Mal systematisch und analytisch. Meine Erfahrung ist, dass es in jedem Fall ein Gewinn ist, ein komplexes Werk wie den Mythos Stück für Stück und mit dem Anspruch auf Durchdringung zu lesen. Vorher habe ich – auch und vor allem aus Zeitgründen – philosophische Positionen vor allem durch Sekundärtexte und Einführungen kennengelernt, sodass die intensive Lektüre eines Originaltextes mich nun umso mehr begeistert. Durch diese Nähe gelingt es mir aber selbstverständlich umso weniger, mich selbst aus der Reflexion zu verbannen. Über jeden Satz könnte ich länger nachdenken, zu jedem Absatz einen Kommentar schreiben, so scheint es mir. Ich finde vieles wieder, was ich schon vor Jahren das erste Mal gedacht habe, selber oder durch Camus, das kann ich nicht mehr sagen.
Um ehrlich zu sein, war es sogar Camus, der mich zum Studium der Philosophie bewogen hat und der bis heute mein Herangehen an das Fach leitet, denn seine Verwebung von philosophischem Denken und fiktivem Schreiben ist mir damals zum Ideal geworden und auch geblieben. Intuitiv erschien es mir gut, das Feld der Philosophie als Mensch zu betreten, der in erster Linie selber verstehen will, und dem nicht an einem Sich-Festklammern an äußeren Gerüsten, an einer Aneignung der Positionen, die eben gerade prominent sind, gelegen ist, an einer Ableistung des wissenschaftlichen Pflichtprogramms. Es sollte um eine Orientierung und Einordnung der eigenen Ansichten und Empfindungen gehen. Das setzt ein gewisses Selbstbewusstsein voraus, zugegeben.
Man könnte einwenden, dass aber gerade Camus ja ein solches Gerüst für mich ist, aber das ist ein falscher Eindruck, denn – wenn mich meine Erinnerung nicht trügt – war erst mein Erleben der Welt da und dann die Feststellung, dass diese Empfindungen sehr ähnlich von Camus schon formuliert worden sind. So bestand von vorneherein eine Nähe, und zwar eine gefühlsmäßige. Was ich an Camus liebe, ist das Körperliche, das Lebensnahe, das Erdige seines Denkens, in dem sich ein Wissen um das Wesen des Menschen zeigt, das in einer sachlichen Wissenschaft nicht wiederzugeben ist. Aber trotz dieses Vertrauens in sein Gefühl und die Lehren seiner Herkunft ist Camus kein Esoteriker, sondern betont Vernunft und Logik ebenso stark. Und der Widerspruch dieser beider Positionen, das ist das Absurde, und das ist, was man aushalten lernen muss.
Mir erscheint es heute selbstverständlich, diesen Widerspruch ständig zu empfinden. Es reicht aus, einen beliebigen Menschen in eine beliebige Tätigkeit vertieft zu sehen, und allein diese Vertiefung, diese Hingabe erscheint mir absurd, denn wenn ich fragen würde, woher sie kommt, auf was sie sich berufen kann, was sie rechtfertigt, würde mir dieser Mensch keine befriedigende Antwort liefern können, keinen Fixpunkt, an dem der Sinn hängen muss.
Sehe ich aber andererseits einen kühlen, zynischen Menschen, der ohne Hingabe und Leidenschaft ist, lehnt sich etwas in mir auf, werde ich regelrecht wütend und will diesen Leblosen packen und wachrütteln, damit ihm gewahr wird, wie schillernd diese Welt ist und wie viel sie ihm zu geben hat. Wie kann ihn das kalt lassen? Wie kann er nicht davon ergriffen werden?
So ist ein einfaches Fußballspiel zugleich das Größte und das Nichtigste. So ist der Alltag das ganze Leben, aber nicht das ganze Leben Alltag. Alles wird ständig zerrissen. Ruhe gibt es nicht mehr. Es geht hin und her, je nach Gemütslage, muss man sagen. So ist immer alles denkbar, keine definitive Moral zu haben, das Tun immer ein Versuch, ein einfacher nächster Schritt, nicht auf einem Weg, sondern auf einem begrenzten Feld. Seine Ränder sind der eigene Körper und der eigene Geist. Der einzige Trost liegt in der Freiheit, die man gewinnt und in dem Gefühl der Stärke, dem Gefühl von Stolz, weil man jeden Tag kämpft, weil man nicht aufgibt, weil man sich nicht dazu verleiten lässt, einfach einen Sinn zu setzen oder jeden Sinn zu verwerfen. Tut man das phasenweise, empfindet man entweder zynischen Selbstekel und oder man beginnt, sich schwach und kindlich zu fühlen, da man merkt, dass man blind und naiv vertraut.
Lange funktioniert beides nicht, dann wird einem alles wieder bewusst. Jetzt ist der einzige Trost, dass es keine verbindliche Pflicht gibt, absurd zu denken. Es zu tun, ist keine allgemeine moralische Pflicht, sondern nur der eigene Anspruch, die eigene Ordnung, der einzige Zustand, der einem ehrlich erscheint. Es gibt immer ein Andererseits, auch wenn die meisten Menschen es sich nicht eingestehen oder noch nicht bemerkt haben.
Das ist übrigens das Kuriose: zu sehen, wie sehr die meisten Menschen in ihren Grenzen verweilen, wie sehr sie auf einen Sinn vertrauen und danach leben, als wäre er irgendwo in Stein gemeißelt und sie daran gekettet. „Wieso machst Du es genau so?“, frage ich mich oft. „Wieso kündigst Du nicht deinen Job und lebst ein Jahr auf der Straße? Was wäre daran schlechter, außer dass es unbequem wäre? Wäre es nicht eine Abwechslung, ein Gewinn, ein Auskundschaften der Möglichkeiten?“
Die Menschen hängen irgendwann an ihrem Leben, sodass sie sich nicht mehr eingestehen, dass es veränderlich ist. Das ist kein Urteil. Mir geht es genauso. Heute mehr denn je. Aber mir wird nicht mehr diese Ruhe zu Teil. Ich denke mich permanent in andere Leben hinein, frage mich, wie sie wären, was für Vorteile sie hätten und was für Prüfungen in ihnen warten würden. Am liebsten würde ich sie alle einmal ausprobieren. Wieso nicht? Ich kann erst danach sagen, wie sie waren.
Ich habe mal ein Buch von einem Australier gelesen, der ein paar Jahre in einem indischen Slum gelebt hat. Ob das wahr ist, weiß ich nicht, aber seine Beschreibungen haben eine Welt gezeigt, die gar nicht so ist, wie man zuerst denken würde. Man denkt aus der eigenen Perspektive, man denkt an endloses Leid und Scham. Aber das ist nicht so. Es ist einfach nur anders. Teilweise. Teilweise ist es auch ähnlich. Die Leute sagen immer so entschieden „Das will ich einfach nicht!“, weil sie sich nicht weiter zu denken trauen, denn dann würden die Balken ihrer Selbstwahrnehmung löchrig werden. Würden sie erkennen, dass ihr Leben alles ist, was sie haben, dass ihnen im Durchschnitt 70, 80 Jahre auf dieser Welt gegeben sind, vielleicht nur wenige in bester Gesundheit, würden sie dann nicht anders leben, konsequenter, mutiger, ehrlicher?
Wie kann man überhaupt noch einen Moment ruhig sein, wenn man um das eigene nahende Ende weiß? Und weiß, dass das, was man gerade erlebt, was man in diesem Augenblick sieht, schmeckt, riecht, denkt und liebt, alles ist, was man sicher hat. Das Vertrauen auf die Zukunft, das Gefühl von Sicherheit, ist nicht gerechtfertigt, lässt sich durch nichts herleiten. Die einzige Herausforderung liegt eigentlich darin, nicht in Panik zu verfallen, sondern trotz dieses Wissens klar zu bleiben und es zu lernen, die Dinge selber zu ordnen. Nur durch das Wissen um den Tod wird man ernsthaft. Erst dadurch kann man die Dinge einschätzen, ihnen einen wahren Wert beimessen.
Wir sind die Party-Generation, aber ich frage mich oft, wie man feiern kann, wenn noch so jung und so blind ist? Was gibt es da zu feiern? Das ist nichts als ein Ausruhen vom Ausruhen. Mir kommt es so vor, als würde vergessen werden, uns jungen Menschen klarzumachen, dass wir leben müssen, dass es keine Zeit zu verlieren gibt. Bis man heute erkannt hat, um was es geht, ist man schon halb über den Zenit. Praktikum hier, Orientierungssemester da, zwischendurch ins Ausland, Strand, Party, Konsum, Ablenkung. Dabei hat man keine Zeit.
Wer ambitioniert ist, hat schlechte Karten. Die Gesellschaft bremst ihn. Überall wird man zum Verweilen eingeladen. Wir sind ein lahmer Haufen. Nicht an der Oberfläche. Da sind alle ständig aktiv. Aber im Kern, denn die wenigstens begreifen, bewegen sich selber, entwickeln eine Leidenschaft für ihr Leben. Es erscheint ihnen selbstverständlich, sicher und sinnvoll. Aber das ist nur ein Kinderglaube. In Büchern von Leuten, die mit Krieg und Tot zu tun hatten, findet man es immer formuliert: Erst durch die Konfrontation mit dem Tod habe ich den wahren Wert meines Lebens gesehen. Wir lesen das, aber begreifen es nicht. Vielleicht denken wir, dass nur die echte Krise uns aufklären kann, aber es reicht, einmal gedanklich konsequent den Sinn zu suchen, einmal immer weiter zu fragen, einmal zu sehen, dass da draußen nichts auf uns wartet, und man ist genau so weit wie die Kriegskinder, nur dass man kein SO schlimmes Trauma hat. So gelangt man zum absurden Bewusstsein: Konsequenz im Denken, Gradlinigkeit, Mut, Ehrlichkeit.