Im vierten Kapitel widmet sich Scheler der Ideierung, also dem „spezifisch geistigen Akt“[1]. Die Ideierung ist ein Vorgang, der ein Wissen vom Wesen eines Dinges generiert, und der nicht zu den Intelligenzakten gehört. Die Intelligenz hatte Scheler, wie gezeigt, der Psyche und die Psyche der – modern ausgedrückt – physikalischen Natur des Menschen zugeordnet, sodass die Intelligenz nicht dafür taugt, den Menschen ontologisch zu privilegieren. Die Ideierung hingegen ist als Geistesleistung zu verstehen, da einem Menschen durch sie in einer schlagartigen und intuitiven Wesensschau klar wird, mit was er es zu tun hat. In Schelers eigenen Worten:
Ideierung heißt […], unabhängig von der Größe und Zahl der Beobachtungen, die wir machen, und von induktiven Schlußfolgerungen, wie sie die Intelligenz anstellt, die essentiellen Beschaffenheiten und Aufbauformen der Welt an je einem Beispiel der betreffenden Wesensregion miterfassen. Das Wissen aber, das wir so gewinnen, gilt, obschon an einem Beispiel gewonnen, in unendlicher Allgemeinheit und von allen möglichen Dingen, die dieses Wesens sind, und, ganz unabhängig von unseren menschlichen Zufallssinnen und der Art und dem Maße ihrer Erregbarkeit, für alle möglichen geistigen Subjekte, die über dasselbe Material denken. Einsichten, die wir so gewinnen, gelten also hinaus über die Grenzen unserer sinnlichen Erfahrungen; sie gelten nicht nur für diese wirklich daseiende Welt, sondern für alle möglichen Welten. Wir nennen sie in der Schulsprache „a priori“.[2]
Im Anschluss an diese Definition unterscheidet Scheler die Funktion, die die Ideierung für die positiven Wissenschaften hat, von der Funktion, die sie für die philosophische Metaphysik erfüllt. So gehen Wesenserkenntnisse in die Wissenschaften als Axiome ein, d. h. sie werden zu obersten Sätze, aus denen alle weiteren Sätze abgeleitet werden müssen, und mit denen sich empirische Erkenntnisse zu decken haben. Für Philosophen hingegen sind Wesenserkenntnisse das Ziel ihrer Suche, denn jene streben nach unzweifelhaften Wahrheiten, die sich durch empirische Forschung niemals erlangen lassen. Offensichtlich ist das Philosophieren als Wesenserkenntnis für Scheler nicht nur irgendeine Geistestätigkeit, sondern die fundamentale Tätigkeit des Geistes überhaupt, denn er folgert:
Diese Fähigkeit der Trennung von Wesen und Dasein macht das Grundmerkmal des menschlichen Geistes aus, das alle anderen Merkmale erst fundiert.[3]