In Franz Kafkas Erzählung „Ein Bericht für eine Akademie“ reflektiert der Affe Rotpeter über seine Menschwerdung.
[Vgl. Franz Kafka: Ein Bericht für eine Akademie.] Was paradox klingt – ein AFFE reflektiert über seine MENSCHwerdung – ist nicht weniger als ein Steilpass in die Tiefen der Metaphysik. Denn auch wenn die modernen Naturwissenschaften Darwins bittere Pille, dass wir alle nur bessere Affen sind, schon längst geschluckt haben, kommt der philosophische Geist mit dieser Neuerung im Gefüge des Universums nicht so einfach klar wie der Chemiker am Reagenzglas. Doch zunächst zu Kafka und seinem Rotpeter.
Was Rotpeter der Akademie berichtet
Rotpeters Menschwerdung kommt ohne Magie aus. Im Gegenteil, sie geht vielsagend banal von statten: Von Jägern der Firma Hagenbeck im heutigen Ghana angeschossen und gefangen genommen, wird Rotpeter in einen engen Käfig gesperrt und auf ein Schiff nach Hamburg verfrachtet. Noch auf der Fahrt beginnt er die Bewegungen und Verhaltensweisen der Seeleute nachzuahmen. Sie widmen sich dem cleveren Affen mit wachsender Freude und werden zu seinen Lehrern. Rotpeter lernt schnell und beginnt schließlich sogar zu sprechen. Bei Ankunft im Hamburger Hafen ist seine Menschwerdung bereits soweit vollzogen, dass er sich für eine Karriere im Varieté empfehlen kann. Dort setzt der Affe seinen Weg zum Menschsein fort, bis er schließlich „im Ganzen das erreicht hat, was er erreichen wollte“: Nach seiner Gefangennahme einen Ausweg aus dem Käfigleben zu finden.
Man könnte annehmen, dass Kafka in der Erzählung schildert, wie ein Affe so weit dressiert wird, bis er einem Menschen gleicht. So ist es aber nicht. Es lässt sich schlüssig begründen, dass hier ein Affe tatsächlich zum Menschen wird. Ein Argument für diese These liefert schon die Form, denn Rotpeter schildert seine eigene Menschwerdung verbal differenziert, und nichts deutet darauf hin, dass ihm jemand seinen Monolog eingeimpft hat. Rotpeter muss demnach über Selbstbewusstsein und Abstraktionsfähigkeit verfügen, Eigenschaften, die Tieren abgesprochen werden. Doch auch seine Äußerungen selbst stützen diese These. Schon zu Beginn des Berichts heißt es:
Ihr Affentum, meine Herren, sofern Sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles.
Es wird hier nicht nur behauptet, dass kein Unterschied mehr zwischen Rotpeter und seinen Mitmenschen besteht, sondern sogar in Frage gestellt, dass es einen substanziellen Unterschied zwischen Mensch und Affe überhaupt gibt. Ein Kommentar ganz am Schluss des Textes untermauert dieses Urteil:
Komme ich spät nachts von Banketten, aus wissenschaftlichen Gesellschaften, aus gemütlichem Beisammensein nach Hause, erwartet mich eine kleine halbdressierte Schimpansin und ich lasse es mir nach Affenart bei ihr wohlgehen. Bei Tag will ich sie nicht sehen; sie hat nämlich den Irrsinn des verwirrten dressierten Tieres im Blick; das erkenne nur ich, und ich kann es nicht ertragen.
Obwohl Rotpeter zu einem Menschen mit der „Durchschnittsbildung eines Europäers“ geworden ist, der ein gänzlich kultiviertes Leben führt, zeigt sich seine animalische Herkunft (stellvertretend für die aller Menschen) in der Tiefe seines Wesens, zum Beispiel an seiner noch immer wilden Sexualität. Die Tatsache, dass er seine Triebe am Tage verleugnet, heißt nicht, dass Rotpeter sich seiner Affennatur schämt, sondern dass der Mensch überhaupt sich seiner Affennatur schämt. Oder tabuisiert bzw. reglementiert nicht jede menschliche Gesellschaft in irgendeiner Form die Sexualität? Definitiv besteht doch ein großer Unterschied zwischen der kultivierten Sexualität der Menschen und der freien und ungezwungenen der Tiere.
Auch andere Textstellen lassen sich als Beleg dafür anführen, dass Rotpeters Schicksal allegorisch zu lesen ist und für die Entfernung des modernen Menschen von seiner animalischen Herkunft steht. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang vor allem Rotpeters Ausführungen über die „menschliche Freiheit“, die von ihm als „Freiheit nach allen Seiten“ charakterisiert wird. Für Menschen, die dieser Sehnsucht nachhängen, hat er nur Spott übrig, denn er glaubt nicht, dass Menschen eine solche Freiheit erlangen können. Ob Affen hingegen in diesem Sinne frei sein können, weiß Rotpeter nicht, denn er hat weder als Mensch noch als Affe nach dieser Freiheit gestrebt.
Mit seiner Skepsis bezüglich einer möglichen Freiheit unterminiert Rotpeter den gewichtigsten Einwand gegen seine Menschwerdung: Wenn es gerade dem Menschen nicht möglich ist, frei „nach allen Seiten“ zu sein, kann seine (Rotpeters) eigene mangelnde derartige Freiheit nicht beweisen, dass er kein Mensch geworden ist. Abstrakter ausgedrückt: Wenn Freiheit, verstanden als eine autonome Einflussnahme auf die eigenen Vorstellungen, Emotionen, Wünsche, Triebe, Handlungen und dergleichen mehr kein essenzieller Teil des Menschseins ist, kann fehlende Freiheit in diesem Sinne kein Argument dafür sein, dass jemand kein Mensch ist.
Im geweiteten Fokus stellt sich Rotpeters Schicksal also als Nachzeichnung des Irrweges der gesamten Menschheit dar, denn die Abwendung von ihrer wahren Natur hat im Endeffekt nur dazu geführt, dass die Menschen nun einem lächerlichen Ideal hinterherrennen, und zwar ironischerweise in die exakt falsche Richtung, denn, wenn es sie überhaupt gibt, liegt die Freiheit in den animalischen Wurzeln der Menschheit eingeschlossen:
Alles liegt offen zutage; nichts ist zu verbergen; kommt es auf Wahrheit an, wirft jeder Großgesinnte die allerfeinsten Manieren ab.
Die Wahrheit, das Ideale liegt fern des Kulturellen, so ist dieser Satz zu verstehen. Die Momente, in denen Rotpeter, der um seine Wurzeln Wissende, die Menschen liebenswert findet, sind denn auch gerade die Momente, in denen sie sich animalisch verhalten. Nicht umsonst macht Kafka die derben Seeleute zu den Lehrmeistern des Affen:
Es sind gute Menschen, trotz allem. […] Ihre Scherze waren grob, aber herzlich. Ihr Lachen war immer mit einem gefährlich klingenden aber nichts bedeutenden Husten gemischt. Immer hatten sie im Mund etwas zum Ausspeien und wohin sie ausspien war ihnen gleichgültig. […] Wenn sie dienstfrei waren, setzten sich manchmal einige im Halbkreis um mich nieder; sprachen kaum, sondern gurrten einander nur zu; rauchten, auf Kisten ausgestreckt, die Pfeife; schlugen sich aufs Knie, sobald ich die geringste Bewegung machte; und hie und da nahm einer einen Stecken und kitzelte mich dort, wo es mir angenehm war.
Später urteilt Großpeter über den Seemann, der ihm am meisten beibrachte:
Er entkorkte langsam die Flasche und blickte mich dann an, um zu prüfen, ob ich verstanden habe; ich gestehe, ich sah ihm immer mit wilder, mit überstürzter Aufmerksamkeit zu; einen solchen Menschenschüler findet kein Menschenlehrer auf dem ganzen Erdenrund; […] ich, ungeduldig und verzweifelt, ihm nachzueifern, verunreinige mich in meinem Käfig, was wieder ihm große Genugtuung macht […]
Rotpeters Lehrer sind offensichtlich selbst wie Affen: Ihr Lachen – man beachte die Pointe, dass Aristoteles den Menschen als homo ridens definierte – und ihre karge Sprache mischen sich mit instinktiven Lauten, sie spucken ohne Anlass und machen spontane raumgreifende Gesten. Ihr Werkzeug, der Stock, ist bewiesenermaßen ein Affenwerkzeug: es wird von ihnen nicht nur zum Kratzen, sonder auch zum Stochern nach Insekten in Baumlöchern benutzt. Und schließlich freut sich der „Lehrer“ sogar über die Ausscheidungen von Rotpeter – deutlicher kann man Kultur nicht verneinen!
Brücke ins Metaphysische
Kafkas Text entwirft, wie gezeigt, eine pessimistische Allegorie der modernen Welt und zwar pessimistisch nicht insofern, als die evolutionäre Verbindung von Mensch und Tier per se schlecht wäre, sondern insofern, als die Menschheit mit dieser Wesensgleichheit falsch umgeht, da sie sich vom Tier und damit von sich selbst befreien will.
In der Tat trifft Kafka mit dieser Einschätzung ins Schwarze! Denn erstens gehen heute schon viele Gebiete von der Prämisse aus, dass „der Mensch auch nur ein Tier“ ist: Die Evolutionstheorie ist Schulwissen, Gentechnik quasi Alltag und die absolute Manipulierbarkeit von Gen-Codes wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit. In der Hirnforschung ist der Vergleich mit Computersystemen prominent, was de facto Physikalismus bedeutet, also die Annahme, dass metaphysische Vorstellungen und die Annahme eines freien Ichs Selbsttäuschungen eines rein materiellen Systems sind.
Zweitens aber benennt Kafka auch die mit diesem historisch noch jungen Paradigmenwechseln einhergehenden Probleme klar, denn auf anderen Gebieten, den geistig-ethischen, versperren wir uns der Gleichstellung des Menschen mit dem Tier (und im Endeffekt auch mit der Pflanze und „dem Stein“). Die Vorstellung, dass wir Menschen im Universum nichts Besonderes sind, sondern nur eine komplizierte Anordnung von „toter“ Materie darstellen, reibt sich mit unserer individuellen Intuition. Der Versuch, uns selbst als nicht metaphysisch zu denken, wird ewig scheitern. Pointiert ausgedrückt heißt das: Auch der Physikalist kann sich selbst nicht physikalisch denken, so gut ihm das bei anderen Menschen gelingen mag.
Das Bedürfnis einer eigenen Seinskategorie „Mensch“ entspringt also dem individuellen Selbstbewusstsein der Menschen, ihren „Ichs“, denn sich selbst erleben die Menschen als denkend, vernünftig, wollend, fühlend usw. Aus ihrem Selbstbewusstsein heraus nehmen sie an, dass auch die anderen Menschen ein entsprechendes Ich besitzen. Die Menschheit ist somit die Summe der einzelnen Ichs, der Begriff „Mensch“ heißt so viel wie „das, was ein Ich hat“. Für die Summe der Ichs bzw. besser für das, was das Ich zum Ich macht, haben sich die Begriffe Vernunft, Selbst, Ratio, Verstand, Wesen, Seele u. a. etabliert.
Max Scheler hat den Begriff „Geist“ gewählt und diese spezielle menschliche Eigenart als über allen anderen Eigenschaften, die der Mensch mit anderen Seinsformen teilt, stehend, als vollkommen eigene Wesensstufe bestimmt. Die essenzielle Eigenschaft des Geistes nennt Scheler „Weltoffenheit“ und beschreibt diese Weltoffenheit im Grunde so, wie Rotpeter die „menschliche Freiheit“ beschreibt: als „Freiheit nach allen Seiten“.
Rotpeter aber leugnet die Möglichkeit einer solchen Freiheit und damit auch die herausgehobene Position des Menschen. Er, der Affe, hat als Mensch alles erreicht, was er erreichen wollte und konnte. Er verfügt über Bildung und Kultur, also über das, woraus sich die Vorstellung einer Sonderrolle des Menschen traditionellerweise speist, und erkennt trotzdem, dass all dies zu nichts führt. Für Menschen, die sich einbilden, frei sein zu können, hat er wegen seines Affenwissens demnach nur Spott übrig:
Ich sage absichtlich nicht Freiheit. Ich meine nicht dieses große Gefühl der Freiheit nach allen Seiten. Als Affe kannte ich es vielleicht und ich habe Menschen kennengelernt, die sich danach sehnen. Was mich aber anlangt, verlangte ich Freiheit weder damals noch heute. Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzuoft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten. Oft habe ich in den Varietés vor meinem Auftreten irgendein Künstlerpaar oben an der Decke an Trapezen hantieren sehen. Sie schwangen sich, sie schaukelten, sie sprangen, sie schwebten einander in die Arme, einer trug den andern an den Haaren mit dem Gebiß. ›Auch das ist Menschenfreiheit‹, dachte ich, ›selbstherrliche Bewegung.‹ Du Verspottung der heiligen Natur! Kein Bau würde standhalten vor dem Gelächter des Affentums bei diesem Anblick.
Rotpeter schließt, wie hier zu lesen ist, nicht explizit aus, dass es die Freiheit als Lebensweise der „heiligen Natur“ gibt. Aber, wie sie zu erreichen ist, wusste er nicht als Affe und weiß er nicht als Mensch. Und wir heute wissen es auch nicht, denn auch wenn wir anerkennen, dass unsere Wurzeln in der „heiligen Natur“ liegen – nichts anderes sagt ja die Evolutionstheorie –, steht der Akzeptanz dieses Umstandes unser individuelles Erleben der Welt im Weg. Kafkas Text arbeitet also das Dilemma des modernen Menschen heraus: Er ist unfrei durch sein Selbstbewusstsein, aber ohne Selbstbewusstsein würde er nicht wissen, dass er frei ist.
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