Das Wirklichkeitserleben soll nun also durch die Ideierung zwecks tieferer Einsicht in die Wesenszusammenhänge der Welt überschritten werden. Die Wirklichkeit wird hier von Scheler klar als Hemmnis des Menschen verstanden:
[…] alle Wirklichkeit, schon weil sie Wirklichkeit ist, und ganz gleichgültig, was sie ist, ist für jedes lebendige Wesen zunächst ein hemmender, beengender Druck und die „reine“ Angst (ohne jedes Objekt) ihr Korrelat. [Der] im Grunde asketische Akt der Entwirklichung kann, wenn Dasein „Widerstand“ ist, nur in der Aufhebung, in der Außerkraftsetzung eben jenes Lebensdranges bestehen, im Verhältnis zu dem die Welt vor allem als Widerstand erscheint, und der zugleich die Bedingung ist aller sinnlichen Wahrnehmung des zufälligen Jetzt-Hier-So.[1]
Die Wirklichkeit ist also mit dem räumlich-zeitlichen Sein der Dinge gleichzusetzen. Zwar steht der die Wirklichkeit erkennende Mensch erkenntnistechnisch schon über demjenigen, der nur das Sosein der Dinge sieht, er befindet sich trotzdem noch auf einer ontologischen Ebene, die ihn nicht als höheres Wesen qualifiziert, denn die Wirklichkeitserfahrung beruht auf der untersten Seelenstufe, dem Gefühlsdrang, und ist damit physikalischer Natur. Erkennt man die Wirklichkeit, erkennt man ein aktuelles Sein, aber man erkennt nichts Absolutes. Der nach Erkenntnis strebende Geistesmensch muss damit das Ideal haben, seine physikalische Natur zu überwinden, denn diese verhindert seine Wesenserkenntnis. Die Methode, derer sich der Geist bedient, ist die asketische Hemmung des Gefühlsdranges:
Diesen Akt der Entwirklichung aber kann nur eben jenes Sein vollziehen, das wir „Geist“ nennen. Nur der Geist in seiner Form als reiner „Wille“ kann durch einen Willensakt – und das heißt: Hemmungsakt – die Inaktualisierung jenes Gefühlsdrangzentrums bewirken, das wir als den Zugang zum Wirklichsein des Wirklichen erkannten.[2]
Wegen diesem Vermögen des Geistes die Triebe zu hemmen, sich also gegen die Lebens-Aspekte im Menschen (im Sinne seiner physikalischen Natur) zu richten, spricht Scheler vom Menschen als „Neinsagenkönner“ oder „Asket des Lebens“[3]. Der Mensch muss als nach höherer Einsicht strebendes Geisteswesen geradezu in einen Konflikt mit der Wirklichkeit treten, und das heißt, er muss seine eigene triebhafte Natur, die ihn von diesem Ziel abhält, verneinen. Allerdings, so sieht es Scheler gemeinsam u. a. mit Freud, ist der Trieb auch nützlich, denn die ihm innewohnende Energie kann zu geistiger Energie sublimiert[4] werden.