Unter der Prämisse, dass der Geist Triebenergie umlenken und aufsaugen kann, stellt sich die Frage, ob der Geist durch diese Energie überhaupt erst erzeugt wird, oder ob er schon vor der Sublimierung existiert. Diese Frage ist Inhalt des fünften Kapitels.[1] Scheler gibt schon zu Beginn seine Position preis:
Nach meiner Überzeugung ist durch jene negative Tätigkeit, jenes „Nein“ zur Wirklichkeit, jene Abstellung, Inaktivierung, der Wirklichkeit und Bild gebenden Treibzentren keineswegs das Sein des Geistes, sondern nur gleichsam seine Belieferung mit Energie und damit seine Manifestationsfähigkeit bedingt.[2]
Scheler gesteht, wie man hier sieht, dem Geist zwar eine Existenz vor der Aufnahme von Triebenergie zu, aber er schränkt diese Existenz insofern ein, als er annimmt, dass dieser ursprüngliche Geist „ohne alle ‚Macht‘, ‚Kraft‘, ‚Tätigkeit‘“[3] ist. Mit dieser Lösung nimmt er eine Position zwischen zwei gegensätzlichen Traditionen in der Behandlung dieser Frage ein, mit denen sich Scheler den Rest des Kapitels beschäftigt. Nach seiner Unterscheidung gibt es zwei Grundströmungen in der Geistauffassung: Die „‚klassische Theorie‘ vom Menschen“ und die „‚negative Theorie‘ vom Menschen“. Während die klassische Theorie davon ausgeht, dass es eine höchste, geistige, im Grunde göttliche, Form des Seins gibt, welche im Vergleich zu den untergeordneten Seinsstufen die meiste Macht bzw. Energie hat, nimmt die negative Theorie an, dass alle kultivierten Akte, die als „geistig“ bezeichnet werden, auf sublimierter Triebenergie beruhen und somit nichts Metaphysisches in sich bergen.