Scheler fragt nun nach „dem Gefüge der Akte“[1], das zur Ideierung führt. Die Technik, die bei der Ideierung zum Einsatz kommt, nennt er „Aufhebung des Wirklichkeitscharakters der Dinge“[2]. Dabei handelt es sich um eine Methode, durch die vom konkreten Wirklichkeitserleben abgesehen wird, um zum Wesen eines Dings zu gelangen. Um zu verstehen, was bei der Überwindung der Wirklichkeit laut Scheler geschieht, muss man zwangsläufig zunächst untersuchen, was er als Wirklichkeit begreift.
Der Wirklichkeitsbegriff Schelers ist, wie sich zeigen wird, in dem hier behandelten Kontext leicht miss zu verstehen, denn man könnte meinen, dass die Ideierung, die Wesensschau, gerade zum wahren, also „wirklichen“ Sein der Dinge führt. Dem ist aber mitnichten so. Die Sphäre der Wirklichkeit bzw. des Jetzt-Hier-Soseins steht bei Scheler in Opposition zu der Sphäre der Essenzen, des Weiteren steht die Realität der Idee gegenüber bzw. der Drang dem Geist. Was aber ist nun für Scheler die Wirklichkeit?
Es gibt für den Wirklichkeitseindruck nicht eine besondere Sensation (hart, fest, etc.). Auch die Wahrnehmung, die Erinnerung, das Denken und alle möglichen perzeptiven Akte vermögen uns diesen Eindruck nicht zu verschaffen: was sie geben, ist immer nur das (zufällige) Sosein der Dinge, niemals ihr Dasein. Was uns das Dasein (=Wirklichsein) gibt, das ist vielmehr das Erlebnis des Widerstandes der schon erschlossenen Weltsphäre – und diesen Widerstand gibt es nur für unser strebendes, für unser triebhaftes Leben, unseren zentralen Lebensdrang.[3]
Es wird hier von Scheler zwischen Sosein und Dasein unterschieden. Das Sosein ist das zufällige Sein der Dinge, das Dasein ist ihr wirkliches Sein. Während man durch Sinneswahrnehmung, Erinnerung und Denken lediglich zum Sosein geführt wird, gelangt man zum Dasein durch Widerstandserlebnisse des Gefühlsdrangs. Es ist also die unterste psychische Stufe, die noch beim Menschen für das Erlebnis der Wirklichkeit sorgt. Scheler schreibt weiter:
Nicht ein Schluß führt etwa zur Realsetzung der Außenwelt […], nicht der anschauliche Gehalt der Wahrnehmung (wie die „Formen“, „Gestalten“) gibt uns das Realitätserlebnis, nicht die Gegenständlichkeit […], nicht die fixe Stelle im Raume in der Bewegung der Aufmerksamkeit usw., – sondern der erlebte Widerstandseindruck gegen die unterste, primitivste, wie wir sahen, selbst der Pflanze noch zukommende Stufe des seelischen Lebens, den „Gefühlsdrang“, gegen unser nach allen Richtungen ausgreifendes, immer, auch im Schlafe und in den letzten Stufen der Bewußtlosigkeit noch tätiges Triebzentrum.[4]
Scheler zu Folge geht der Wirklichkeitseindruck sowohl dem Bewusstsein, als auch der Vorstellung und der Wahrnehmung voraus. Ein Ding ist in erster Linie wirklich und auch in der Wahrnehmung des Dings, der, gleich welcher Art, immer ein Triebimpuls zugrunde liegen muss, ist diese Eigenschaft die grundlegendste.[5] Es bleibt in Schelers Ausführungen zum Widerstandserlebnis einigermaßen vage, worin dieser genau besteht.
[1] Ebd.
[2] Ebd.
[3] S. 53.
[4] Ebd.
[5] „In der streng geregelten Ordnung seiner Bestandteile (Farbe, Gestalt, Ausdehnung etc.), in der sich, sowohl objektiv wie bei seiner Wahrnehmung für uns, irgendein körperliches Ding aufbaut […]. Ist keines ursprünglicher als die Realität bzw. das erlebte Realitätsmoment. Lasset für ein Bewußtsein alle Farben und sinnlichen Materien verbleichen, alle Gestalten und Beziehungen zergehen, alle dinglichen Einheitsformen verschweben – das, was schließlich gleichsam nackt und von jeder Art der Beschaffenheit frei und ledig noch bleiben wird, das ist der machtvolle Eindruck der Realität, der Wirklichkeitseindruck der Welt.“ [S. 54]