Die Ereignisse rund um den Heldenplatz-Skandal sind in der Forschungsliteratur bereits bestens dokumentiert und dargestellt worden, weswegen ein vergleichsweise kurzer Überblick über den Ablauf genügen soll.[63] Der 1986 zum Direktor des Wiener Burgtheaters ernannte Claus Peymann beauftragte Thomas Bernhard, mit dem er schon zuvor viele Projekte realisiert hatte, anlässlich des 50. Jahrestages des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich am 15. März 1988 ein Theaterstück zu schreiben.[64] Bernhard willigte ein und schrieb Heldenplatz, in dessen Zentrum eine 1988 in Wien lebende jüdische Familie steht. Vor der Nazi-Herrschaft nach England (Oxford und Cambridge) geflohen, kehrten sie in den fünfziger Jahren nach Wien zurück. Seitdem erlebten sie die politische und ideologische Situation in Österreich als genauso antisemitisch und kulturfeindlich wie im Dritten Reich. Josef Schuster, Professor für Mathematik und Patriarch der Familie, hat sich aus Verzweiflung über diese Situation vor Beginn der Handlung des Stücks aus dem Fenster seiner Wohnung am Heldenplatz gestürzt, dem Ort, an dem an eben diesem Märztag Hitler von den Österreichern unter Jubel empfangen worden war. Aber nicht nur Josef litt schon lange unter den Zuständen; auch die anderen Familienmitglieder können die Umstände kaum ertragen: Während sein Bruder Robert und seine Tochter Anna, beide ebenfalls Professoren, ihren Unmut noch einigermaßen im Griff haben und verbal artikulieren können – von diesen beiden Figuren stammen schließlich die berüchtigten Zitate aus dem Stück – leidet die Frau Professor unter Wahnvorstellungen und meint, in der Wohnung am Heldenplatz die Jubelschreie der Nazis aus dem Jahre 1938 zu hören, was auch sie am Ende des Stücks umbringt.
Heldenplatz ist ein typisches Bernhard-Werk. Die tatsächliche Handlung ist auf ein Minimum reduziert, Bewegung findet hauptsächlich in den Worten der Figuren statt. Auch diese sind Bernhard typisch gezeichnet: Intellektuelle, die sich in eine grotesk vergeistigte Welt zurückziehen und in verschlungenen Denkwegen verlieren. Ihnen gegenübergestellt werden bodenständigere Figuren, deren Praxisorientierung allerdings auf Oberflächlichkeit und Egoismus beruht.[65] Auch die Sprache von Heldenplatz kennt man bereits aus vorangegangenen Werken. Superlative und skurrile Wortschöpfungen befeuern negative Pauschalurteile über alles, was den subjektiven Motiven der Figuren, denen stets eine Nähe zum Wahnsinn attestiert wird[66], zuwiderläuft. Die Frage ist also, wieso sich gerade bei diesem Stück die Reaktionen so hochschaukeln konnten, dass es zum Skandal wurde.
Peymann und Bernhard wollten Heldenplatz bis zur Premiere, die ursprünglich im Zuge der Feierlichkeiten des hundertjährigen Jubiläums des Burgtheaters am 14. Oktober 1988 stattfinden sollte, geheim halten, da sie um die Brisanz wussten.[67] Dieser Plan misslang und eine Vorversion des späteren Stücks gelangte unter noch immer ungeklärten Umständen in die Hände der Kulturjournalistin Sigrid Löffler,[68] die im Nachrichtenmagazin profil am 1. August und am 19. September 1988 in zwei Artikeln unter Verwendung von Zitaten über das Stück berichtete.[69] Große Resonanz blieb zunächst aus. Erst als sich am 7. Oktober neben der Wochenpresse auch die Kronen Zeitung – man kann sagen: das österreichische Pendant zur Bild Zeitung – der Zitate annahm, reagierte die Öffentlichkeit und es folgte der Heldenplatz-Skandal. Die Kronen Zeitung provozierte diesen Verlauf, indem sie von Tag zu Tag ihre Polemiken gegen Bernhard und Peymann steigerte, wofür sie auch namhafte Politiker zu Stellungnahmen zu den „skandalösen“ Sätzen aus dem Stück motivierte. Vor allem das rechts-konservative Lager nahm den Ball gerne auf und versuchte durch Verurteilungen von Stück und Autor bei seinen Wählern zu punkten.[70]
Inhaltlich hatten die Zeitungen ihr Pulver bald verschossen: Schon am 12. Oktober zog die „Krone“ quasi selbst einen Schlussstrich unter ihre Argumentation, als sie ein Karl-Kraus-Zitat von Jörg Haider, das dieser auf Claus Peymann umgemünzt hatte, zur Schlagzeile machte: „Hinaus aus Wien mit dem Schuft!“[71] Die verbleibende Zeit bis zur Premiere am 4. November wurde damit „zur Phase der ‚Reflexion‘“[72], während der von der rechts-konservativen Presse viele ideologische Topoi dieser Tage aufgesucht wurden, die mit dem Ausgangspunkt der Debatte nur noch wenig zu tun hatten. Für dieses Abfeuern reaktionärer Denkmuster wurden verstärkt auch die Leser mit ins Boot geholt: In zahlreichen Leserbriefen führten Bürger mit der entsprechenden Gesinnung die Argumentationen der Zeitungen weiter oder äußerten einfach lauthals ihre Zustimmung zu den Bernhard- und Peymann-feindlichen Artikeln in der Presse. Ganz parallel zu deren Stil geschah auch dies meist in Form dumpfer Polemik. Die heftige Kritik, die Bernhard und Peymann von rechts entgegenschlug, blieb auch dem Rest des Landes nicht verborgen und liberalere Bürger und Künstler formierten sich zu Unterstützungsgruppen.[73]
Bis zur Premiere des Stücks am 4. November, der auch der Tag war, an dem der offizielle Text in die Buchläden kam, weitete sich der Medienskandal immer weiter aus, um dann quasi schlagartig zu enden, denn durch die Aufführung bzw. die Veröffentlichung des Textes konnten die „skandalösen“ Zitate in ihren Kontext gestellt werden, wodurch sich die Provokationen relativierten. Die Uraufführung stellte allerdings einen famosen Schlussakkord dar: Nachdem vor Beginn zu Bernhards und Peymanns Ehren ein Misthaufen vor dem Theater aufgeschüttet werden sollte, fand die Aufführung selbst – die wichtigsten Fernsehnachrichten des Landes berichteten – unter Polizeischutz statt und lockte Freunde wie Feinde des Stücks gleichermaßen ins Burgtheater. Vielfach wurde sie von Buh-Rufen und Jubelschreien der erregten Masse unterbrochen, sodass sie fast fünf Stunden dauerte. Am Ende überwog die positive Aufnahme, was Thomas Bernhard trotz damals schon akuter Krankheit dazu bewegte, sich das erste Mal überhaupt auf der Bühne feiern zu lassen.[74]
Obwohl der Skandal um Heldenplatz, wie sein abruptes Ende zeigt, im Grunde „nur“ auf einer Vermengung von Figuren- und Autorenrede beruhte, wurde das Theaterstück auch nach der Premiere vor allem in Hinblick auf den Skandal bewertet und weniger nach literarischen bzw. ästhetischen Gesichtspunkten.[75] Der Skandal hat die Rezeption also nachhaltig geprägt. J. Spits vertritt analog dazu sogar die These, dass er die Rezeption von Bernhards Gesamtwerk im Ausland grundlegend verändert hat, indem es seitdem nicht mehr in erster Linie nach formal-ästhetischen und sprachlichen Aspekten bewertet wird, sondern vor allem in Hinblick auf die darin enthaltene Österreichkritik. Bernhard sei durch den Heldenplatz-Skandal in der öffentlichen Wahrnehmung endgültig zum „Skandal-Autor“ geworden.[76] Der Hauptgrund für diese Fixierung auf den das Stück begleitenden Skandal, der das Stück selbst fast vollkommen in den Hintergrund drängte, dürfte die Tatsache sein, dass Thomas Bernhard nie mehr mediale Aufmerksamkeit zuteil wurde als während des Heldenplatz-Skandals, wie eine statistische Untersuchung der Berichterstattung über den Autor zeigt.[77]