Man kann den Skandal in exakte einzelne Phasen einteilen oder seinen Ablauf fließender und weniger strukturiert darstellen. Die erste Variante wird sowohl von A. S. Markovits und M. Silverstein als auch von S. Burkhardt verfolgt.[15] In beiden Arbeiten wird der Skandal in fünf Phasen gegliedert, wobei sich Burkhardt explizit an der geschlossenen Form eines Dramas orientiert. Da sich diese beiden Modelle in der Anwendung auf den Praxisfall als zu starr erwiesen haben, sollen sie hier keine Verwendung finden.[16] Einen praxistauglicheren Ansatz bietet H. M. Kepplingers Analyse der bei einer Skandalierung wirkenden Mechanismen.[17] Seine Arbeit hebt stärker als die oben genannten auf im Skandal wirkende sozialpsychologische Mechanismen ab, die von Kepplinger anhand empirischer Experimente veranschaulicht bzw. belegt werden. Der Skandal wird von ihm als ein von irrationalen Faktoren gelenkter, wild um sich greifender Automatismus präsentiert. Diese chaotische Natur des Skandals wirkt sich auch auf seinen Ablauf aus. Auf das Wesentliche reduziert stellt er sich wie folgt dar:[18]
Die Skandalierung beginnt damit, dass für einen eventuell schon länger bestehenden, tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand – definiert als „Verstoß gegen die herrschende Moral oder das geltende Recht, der einen materiellen oder ideellen Schaden bereits hervorgerufen hat oder hervorrufen kann“[19] – ein Schuldiger (Skandalierter)[20] ausgemacht und von den Medien (Skandalierer)[21] angeprangert wird. Sind die ersten Berichte überzeugend, werden sie zur Basis eines Deutungsschemas, das sich nun sowohl aufgrund vorangegangener ähnlicher Fälle als auch aufgrund journalistischer Wechselwirkungen herausbildet. Wenn die Skandalierung gelingt, etabliert sich in der darauffolgenden „Welle von Medienberichten“[22] das Deutungsschema so gut, dass es nahezu von der gesamten Medienlandschaft übernommen wird, sodass schon nach relativ kurzer Zeit kaum noch kritische Gegenstimmen zu vernehmen sind.[23] Die Bevölkerung (die Dritten/das Skandalpublikum) übernimmt vor allem aus Mangel an anderen Informationsquellen zwangsläufig die in den Medien etablierte Sichtweise des Geschehens und reagiert mit Empörung.[24] Die sehr emotionale Reaktion des Publikums wird durch eine Dramatisierung der Ereignisse durch die Medien provoziert. Egal ob das Geschehen mit „Horror-Etiketten“ versehen wird, „Verbrechens-Assoziationen“ geweckt oder „Super-GAU-Spekulationen“ angestellt werden, Ziel der dramatisierten Berichterstattung ist immer, die Skandalierung manipulativ voranzutreiben.[25] Der Skandal kann damit von Kepplinger als „die Zeit der Empörung“[26] qualifiziert werden. Sein Ende findet er, wenn sich die Medien anderen Themen zuwenden, wodurch andere Emotionen erregt bzw. die emotionalen Ressourcen des Publikums auf andere Objekte gelenkt werden.[27]
Wichtig ist, die erkenntniskritischen Elemente in Kepplingers Analyse hervorzuheben. Wie schon Neckels Definition herausstreicht, ist eine Skandalierung nicht zwangsläufig eine wohl begründete Anklage, sondern lediglich eine „öffentliche Bezichtigung“ einer Verfehlung. Ob diese zur Empörung beim Publikum führt, hängt nach Kepplinger nicht davon ab, ob tatsächlich ein Missstand vorliegt, sondern ob die Schilderung des Missstandes mitsamt der Benennung von Schuldigen in sich stimmig ist und an bereits vorhandene Denk- und Deutungsschemata anknüpfen kann. Ein (natur-)wissenschaftlicher Wahrheitsbegriff existiert im Skandal nicht, sodass Kepplinger folgern kann, dass Skandale „Kunstwerke mit klaren Botschaften und starken emotionalen Appellen [sind]“. Der Skandalierer erscheint damit v. a. als „Geschichtenerzähler“ und weniger als Journalist, Wissenschaftler oder Rechtsexperte.[28] Kepplingers erkenntnistheoretische Skepsis dehnt sich ebenfalls auf den Bereich sozialer Normen aus, denn auch die Empörung des Publikums über den angenommenen Normbruch des Skandalierten orientiert sich, wie Experimente vermuten lassen, nicht an rationalen Argumenten oder philosophischen Reflexionen, sondern ist die Folge von dem, was gemeinhin „Gruppenzwang“ genannt wird.[29] Der Skandal ist also eine soziale Flutwelle, von der das Individuum als passives Stück Treibholz mitgerissen wird: Nicht nur das Auftreten von emotionaler Erregung, auch ihre Art – Wut, Empörung, Trauer usw. – wird von externen Faktoren bestimmt; moralische Rechtfertigungen des eigenen Verhaltens im Skandal entpuppen sich so als verfehlt.