6.2 – Kritik am Naturalismus

Den Rest des Kapitels setzt sich Scheler kritisch mit Philosophien auseinander, die seiner Weltordnungsvorstellung zuwiderlaufen. Zunächst nimmt er sich „‚naturalistische‘ Theorien vor“[1], die er in zwei Grundarten unterteilt – die „formal-mechanischen Auffassungen vom menschlichen Verhalten“ und die „vitalistischen Auffassungen“ -, die sich wiederum in verschiedene Typen aufspalten lassen. Die formal-mechanischen Auffassungen, deren Typen hier nicht von Belang sind, kranken daran, dass sie „das Wesen des Lebens in seiner Eigenart und Eigengesetzlichkeit […] übersehen“[2], da sie dieses auf rein mechanisch Ablaufende Prozesse reduzieren wollen. Die vitalistischen Auffassungen machen ganz im Gegensatz dazu das Leben zur „Urkategorie der Gesamtauffassung des Menschen und damit auch des Geistes“[3], und das bedeutet, dass der Geist im Grunde ein Produkt des Trieblebens ist. Scheler identifiziert drei Wege, wie die Entstehung des  Geistes in vitalistischer Manier gedacht worden ist: Entstanden aus dem Nahrungs-, dem Fortpflanzungs- oder dem Machttrieb. Den Grund, warum eine Herleitung des Geistes aus dem Trieb nicht gelingen kann, hat Scheler im Prinzip schon in seiner Auseinandersetzung mit der negativen Theorie vom Menschen gegeben. Nun formuliert er ihn wie folgt:

Alle diese Theorien [die naturalistischen Lehren] jedoch haben darin geirrt, daß sie nicht nur die Tätigkeit, die Kraftgewinnung des Geistes und seiner Ideen und Werte, sondern auch diese Ideen selbst nach ihrem inhaltlichen Sinnbestande, ferner die Gesetze des Geistes und sein inneres Wachstum aus diesen Triebmächten herleiten wollten. Wenn der Irrtum des abendländischen Idealismus der „klassischen“ Theorie mit seiner mächtigen Überschätzung des Geistes die tiefe Wahrheit Spinozas übersah, daß die Vernunft unfähig ist, die Leidenschaften zu regeln, es sei denn, daß sie – kraft „Sublimierung“, wie wir es heute nennen würde – selbst zu einer „Leidenschaft“ werde, so hat der sog. Naturalismus seinerseits die Ursprünglichkeit und Selbstständigkeit des Geistes vollständig mißachtet.


[1] S. 81.

[2] S. 82.

[3] Ebd.

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