Wie stark hat mich Camus geprägt?

Gestern war ich bei einer „Camus-Revue“ zum 100. Geburtstag von Albert Camus. Die Veranstaltung war Teil der phil.COLOGNE, einem viertägigen Philosophie-Festival in Köln.

Um ehrlich zu sein, hatte ich keine großen Erwartungen an den Abend, und empfand ihn auch tatsächlich als viel zu seicht. Ich war nur hingegangen, weil ich einen Artikel über die phil.COLOGNE zu schreiben hatte, und bei Albert Camus im Thema drin war und dementsprechend wenig Mühe mit dem Text haben würde.

Wozu mir der Abend aber sehr wohl diente, war eine Auffrischung meiner eigenen Gedanken zu Albert Camus, die ich ja auf dieser Homepage damals dokumentiert habe. Da mich die Lückenhaftigkeit der Expertenausführungen ärgerte, ich die Details von Albert Camus’ Philosophie des Absurden aber selbst nicht mehr wirklich präsent hatte, habe ich gerade noch einmal meine eigene Hausarbeit durchgelesen. Dabei stieß ich auch auf die absurden Typen, deren Archetyp bekanntermaßen Sisyphos ist. Ein weiterer dieser Typen ist der Eroberer.

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Camus-Revue auf der phil.COLOGNE: Christian Brückner trägt die Nobelpreisrede vor
[© mp]

Und das bringt mich zum Thema! Denn: Neulich hat mir eine Kollegin einen sog. „DISG-Persönlichkeitstest“ geliehen. „DISG“ steht für die Charaktereigenschaften dominant, initiativ, stetig und gewissenhaft. Ich habe ihn aus Neugier gemacht und weil ich gerne Kästchen ankreuze. Es ist darum keine Überraschung, dass ich der gewissenhafte Typ bin. Mein zweiter Hauptpersönlichkeitsanteil ist „dominant“. Also: Wäre Gerhard Schröder mein Boss, würde es vermutlich krachen.

Der Test ließ aber auch genauere Auswertungen zu. Man konnte die einzelne Werte für die vier Merkmale in ein Diagramm übertragen und dann eine Kurve einzeichnen. Diese konnte man mit einer zweiten Kurve vergleichen, die angab, wie man dachte, sich in einem bestimmten Umfeld verhalten zu müssen. Wenn die Kurven sehr unterschiedlich waren, hieß das, dass man höchstwahrscheinlich unter hohem Druck steht, weil man meint, sich anders verhalten zu müssen, als man ist. Bei mir waren sie quasi gleich. Man konnte die Auswertung verfeinern, indem man die Summe aller vier Einzelmerkmale bildete. Über Knüpfung an Zahlenwerte konnte man so eine vierstellige Nummer ermitteln und dann nachschlagen, welcher Typ man ist.

Und was bin ich? – Eroberer! Ein paar Jahre nachdem ich mich intensiv mit Albert Camus beschäftigt habe, weist mir ein Persönlichkeitstest quasi einen der absurden Typen zu. Da stellt sich natürlich die Frage nach dem Huhn und dem Ei: Hat mich Albert Camus nachhaltig geprägt oder hat mich Albert Camus damals deswegen angezogen, weil er meinen Nerv getroffen hat? Für letzteres spricht, dass man seine Persönlichkeitsmerkmale schon als Kind ausbildet, für die erste Variante spricht, dass bestimmte Camus’sche Denkweisen für mich früher nicht unbedingt typisch waren, es aber immer mehr werden.

Doch wie beschreibt Albert Camus den Eroberer und wie tut es der Test? Camus sagt, dass der Eroberer sein Reich stets vergrößern will, obwohl er weiß, dass es im Grunde sinnlos ist, weil es nicht von Dauer sein wird. Der DISG-Eroberer hingegen hat es laut Buch vor allem gelernt, „mit Spannungszuständen zu leben“. Wenn das nicht nach einem Leben im Angesicht des Absurden klingt! Eine weitere Grundtendenz der Eroberers ist es, dass er „Aggression von anderen und von sich selbst annimmt“, was man ebenfalls mit Albert Camus’ Philosophie verbinden kann, nämlich mit der Forderung, stets gegen sein Schicksal, also gegen das Schweigen der Welt zu revoltieren. Die Zielvorstellung des Eroberers ist es außerdem, „das Außergewöhnliche zu erreichen“, auch das geradezu ein Fingerzeig auf die Philosophie des Absurden, denn das Gefühl des Absurden ist per definitionem das Außergewöhnliche, weil nicht Alltäglich-Vertraute. „Ein Leben im Licht des Absurden bewältigen“ heißt darum auch „das Außergewöhnliche zu erreichen“.

Ich verzichte auf weitere Details des Tests, denn er ist nur ein seltsam objektivierender Beleg dafür, wie eng ich mich mit Albert Camus’ Denken verbunden fühle bzw. wie sehr ich finde, dass Albert Camus’ Philosophie eine gute Beschreibung des menschlichen Daseins gibt. Schon oft habe ich wegen dieser Parallelität zu Leuten gesagt: „Wenn Du meine Weltsicht verstehen willst, solltest Du Camus lesen.“ Dies kam natürlich selten gut an. Abgesehen davon, dass es selbstherrlich klingt, meinte man, ich hätte plump die Gedanken irgendeines großen Denkers übernommen, wäre aber dann auch noch zu faul oder in Wahrheit gar nicht in der Lage, sie überhaupt wiederzugeben.

Aber so ist es nicht, das kann ich beteuern, denn ich kenne die Reihenfolge: Zuerst habe ich das Gefühl des Absurden selbst kennengelernt und zwar als schlagartiges und tagelang anhaltendes, mich niederschmetterndes Gefühl, dass im Grunde alles sinnlos ist. Da ich mich nicht unmittelbar, nachdem mich dieses Gefühl „angesprungen hatte“, wie Albert Camus es beschreibt, umgebracht habe, lebte ich einige Tage wie unter einer Glocke und betrachtete fassungslos die sinnentleerte Welt um mich herum und meine Mitmenschen, die sich um diese doch so offensichtliche Wahrheit keinen Deut scherten. Ich weiß noch, dass ich in dieser Zeit einmal völlig geistesabwesend mit meiner Mutter in einem Autohaus war und dort nichts als weg wollte, aber auch nicht wusste wohin. Erst viel später habe ich bei Camus und teilweise auch bei Sartre Beschreibungen dieses Gefühls und eine philosophische Einordnung gefunden. Mit diesem Gefühl leben zu lernen, hat mich dann die nächsten Jahre gekostet und ich schließe nicht aus, dass ich es bis heute gar nicht gelernt habe, sondern mich nur stets halbwegs erfolgreich von dieser Wahrheit ablenke und sie mich irgendwann wieder mit voller Wucht trifft.

Es ist im Übrigen auch nicht so, dass ich mich in Diskussionen laufend auf Albert Camus zurückziehe oder nur noch sein Werk anbete. Ich habe mich nach der ersten gründlichen Analyse des Mythos überhaupt nicht weiter mit ihm beschäftigt, von der Lektüre der Erzählung „Jonas oder der Künstler bei der Arbeit“ kürzlich einmal abgesehen, denn mit dem Mythos muss das Wichtigste gesagt sein: Es gibt keinen zu erkennenden Sinn der Welt, also muss man einen eigenen Weg finden, wie es sich trotzdem glücklich leben lässt. Diese Erkenntnis brauche ich nicht immer wieder zu prüfen, sondern es geht für mich nun darum, die richtigen Wege auch wirklich praktisch zu finden, was für ein ausschweifendes Philosophiestudium natürlich fatal ist, weil ich mir oft denke: „Wozu noch den ganzen Scheiß durchackern?“ Die Dürre, die letztlich auf dieser Homepage herrscht, ist (auch) diesem Fazit geschuldet.

Aber kommen wir zum praktischen Nutzen der Philosophie. Ich denke, dass die philosophische Denkmethode – verstanden als kritische, skeptische, analytische, gründliche, logische, selbstreflexive Denkmethode – einem bei vielen Lebensfragen nützt, aber ich denke nicht mehr, dass es sich lohnt, sein Leben der Philosophie zu opfern, wenn man es dadurch verpasst. Man kann rein gedanklich keinen Sinn finden, und daher muss man lernen, sich selbst zu disziplinieren; man muss lernen, mit dem Denken wieder aufzuhören.

Der Nicht-Philosoph, der nie wirklich mit dem Denken angefangen hat, wird mir darin leicht Recht geben, hat aber natürlich gar keine Ahnung, wie schwierig dieses Unterfangen ist, wenn man die süße Note der Wahrheit, die jeder philosophischen Beschäftigung irgendwo eigen ist, schon einmal in der Nase gehabt hat. Man beginnt mit dem Nachdenken und verlässt erstaunt die erste platonische Höhle und ist überwältigt. Und dieses Erlebnis wiederholt sich wieder und wieder und stets blickt man mit Unglauben zurück auf die zurückliegende Höhle und ist überrascht, dass man doch wieder weitergekommen ist. Und weil man so irgendwie immer wieder aus der aktuellen Höhle herauskommt und weil man Unendlichkeit nicht denken kann, meint man, man müsse nur fleißig genug weiter steigen und käme so irgendwann endgültig ans Licht.

Aber das ist Quatsch! Darum sollte nur der immer weiter philosophieren, dem es gar nicht ums ans Licht Gelangen geht, sondern nur um das Verlassen der aktuellen Höhle bzw. nur um die reine Freude am Nachdenken. Das wäre der „absurde Philosoph“, der Philosoph, der keine Wahrheit mehr sucht. Philosophie ist für ihn momentane Lust und hat dadurch ihren Wert. Sie ist keine edle Suche nach höherer, ewiger, göttlicher Wahrheit mehr. Wenn einer nämlich mit diesem Anspruch philosophiert und sich selbstkasteiend mühsam von Höhlenausgang zu Höhlenausgang schleppt, ist er im Grunde dumm. Einer, der den ganzen Tag seine Modelleisenbahn im Keller sinnlos im Kreis fahren lässt und dabei glücklich ist, ist der bessere Philosoph.

Das ist jedenfalls so etwas wie meine praktische Übersetzung von Albert Camus‘ Gedanken in Lebensweisheit. Ich persönlich habe noch ab und zu Spaß an der Philosophie und wenn ich fruchtbar nachdenke, verlasse ich so auch noch hin und wieder eine Höhle, aber im Grunde ist mir das egal geworden, denn ich denke, im Grunde ist eine Höhle wie die andere. Mein oberstes Anliegen ist darum das momentane Glück geworden und wenn ich feststelle, dass ich längere Zeit nicht unglücklich war, ist das für mich ein größerer philosophischer Erfolg, als wenn ich irgendeine Theorie verstanden, sprich wieder eine Höhle verlassen habe.

Ich sagte vorhin, dass das nicht immer so war, und darum glaube ich schon, dass mich Camus‘ Philosoph bei aller wahrscheinlichen Prädisposition zu seinen Gedanken wenn nicht geprägt, so doch bestärkt hat. Vor ein paar Tagen war ich mit derselben Kollegin, die mir den Persönlichkeitstest geliehen hat, bei einer anderen Veranstaltung der phil.COLOGNE, einer über Nietzsches „musikalisches Denken“, und danach haben wir uns über Philosophie und über unsere Lebensentwürfe unterhalten. Und zu meinem Erstaunen fand sie den meinigen mutig, weil ich mir über die Zukunft kaum Sorgen mache, obwohl ich kaum fixe Pläne oder Sicherheiten für diese habe. Ich dachte darüber nach und es stimmt, die Zukunft ist mir in den letzten Jahren gleichgültiger geworden, auch wenn ich schon vor Jahren im Grunde nur Negativ-Ziele hatte: Während andere ihr Studium beenden, dann Reisen und dann eine Familie gründen wollten, wollte ich das genaue Gegenteil, nämlich irgendwann morgens aufwachen und nicht wissen, wo ich am Abend sein würde.

Nachdem ich dieses Ziel einige Zeit später tatsächlich erreicht hatte, habe ich zwar herausgefunden, dass maximale Unbestimmtheit nicht unbedingt maximale Freiheit bedeutet, da man auch in einem aktuellen Moment etwas wollen kann, das vorherige Planung oder Vorbereitung erfordert hätte. Trotzdem ist es mein Ziel geblieben, möglichst wenige Ansprüche an die Zukunft zu stellen. Das heißt freilich nicht, dass ich nur noch in minimalen Zeitabständen denke und handle.

Hier kommt ein sehr wichtiger Punkt, auch von Camus‘ Philosophie, ins Spiel: Das Bewusstsein des kommenden Todes. Wenn man den Tod als zwar unbestimmten, aber schon feststehenden Endpunkt des Lebens mehr oder weniger stets vor Augen hat, müssen alle Taten diesem Horizont standhalten. Kurzweilige Ablenkungen können dieser Gnadenlosigkeit meines Erachtens nach nur selten standhalten. Wer wirklich weiß, dass er einmal, vielleicht schon bald, sterben wird, will meistens auch ein reichhaltigeres Leben führen als der unbedacht Dahinlebende. Aber reichhaltige Beschäftigungen sind nun mal meistens eher langfristige Beschäftigungen, man denke nur an den Eroberer: Er setzt sich ein maximales Zeil, ein Land erobern, und das wird er kaum an einem Nachmittag schaffen, wenn ihm grade zufällig der Sinn danach steht.

Wie geht das also zusammen, momentanes, vergnügtes Leben im Augenblick einerseits, auf den zukünftigen Tod ausgerichtete, langfristige Zielsetzungen andererseits? Indem das aktuelle Tun befriedigt, weil es im Schatten des drohenden Todes stattfindet. Man ist im aktuellen Augenblick glücklich, weil und wenn man weiß, dass man das, was man aktuell tut, tun muss und tun will. Man entscheidet sich für einen bestimmten Weg und geht ihn, ohne an das Ankommen zu denken. Wann der Tod kommt, ist dann gleichgültig, denn man hat zu jedem Zeitpunkt das getan, was man tun wollte.

Der Eroberer, den eine Krankheit auf seinem Feldzug gegen das nächste Reich niederstreckt, wird darum kurz vor seinem Tod auch dann zufrieden sein, wenn er dieses Reich nicht mehr erobert hat, und zwar wenn er sich klarmacht, dass er auf dem richtigen Weg gestorben ist. Wahrscheinlich gibt es mehr Negativ-Beispiele für diese These, nämlich all die Fälle, wo jemand reich oder erfolgreich sein wollte, und mit dem Erreichen seines Ziels seine Zufriedenheit eingebüßt hat. So würde es dem selbstbewussten Menschen wohl auch im Paradies gehen: Er würde sich nutzlos fühlen und an Langeweile innerlich zu Grunde gehen. Andersherum ist es also viel sinniger: Glücklich leben und in Ruhe sterben.

Ich teste mich ab und an auf mein eigenes Glücklichsein, indem ich mir vor dem Einschlafen vorstelle, dass ich die Nacht nicht überleben werde. Ich stelle mir dann die Frage „Tust Du alles, was Du tun willst, und wenn Du es nicht tust, tust Du es aus guten Gründen nicht bzw. bist Du auf dem Weg dahin, es irgendwann tun zu können?“ Wenn ich zu diesen Fragen „ja“ sagen kann, werde ich bei diesem Spiel immer von einer tiefen Zufriedenheit erfüllt und schlafe bald in sprichwörtlicher Seelenruhe ein. Ich schließe für mich daraus, dass ich so falsch nicht leben kann, auch wenn das selbstgerecht klingt.

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